Jonas Cohn’s Value-Theoretical Foundation of Aesthetics
- Authors: Göller T.1
-
Affiliations:
- Karlsruhe Institute of Technology
- Issue: Vol 28, No 4 (2024): EXPERIMENTAL PHILOSOPHY
- Pages: 1165-1186
- Section: HISTORY OF PHILOSOPHY
- URL: https://journals.rudn.ru/philosophy/article/view/42163
- DOI: https://doi.org/10.22363/2313-2302-2024-28-4-1165-1186
- EDN: https://elibrary.ru/KIIWCP
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Abstract
Jonas Cohn (1869-1947) founded his philosophical aesthetics as a critical theory of value on the basis of the Southwest German school of Neo-Kantianism. For Cohn, aesthetic values are „purely intensive” values. As such values, they are self-sufficient values immanent to a work of art. A work of art also forms a unity of expression and design. The supra-individual value of a work of art is measured by this unity. This unity cannot be determined discursively, but is revealed individually in direct, reflection-free experience. Nevertheless, aesthetic values claim supra-individual validity. The history of art documents the ongoing debate about a general, value-based recognition of works of art. Cohn’s justification of aesthetics, which combines Kantian, neo-Kantian and life-philosophical motives, is an important contribution to a systematic justification of aesthetics despite some shortcomings. However, Cohn’s aesthetics have not yet received the attention they deserve.
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Die allgemeine Ästhetik Jonas Cohns gehört zu den wenigen Versuchen, eine philosophische Ästhetik als kritische Werttheorie zu begründen. Eine solcher Begründungsversuch auf der Grundlage der Kantischen Philosophie ist zwar von der sogenannten Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus vorgezeichnet. Eine umfassende Grundlegung der Ästhetik wurde von Vertretern dieser Schule jedoch, im Unterschied zu den Marburger Neukantianern, nicht ausgeführt. Das ist von den namhaftesten Vertretern, Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband, aber auch von anderen Vertretern dieser Schule zu sagen. Bei ihnen finden sich, wenn überhaupt, nur skizzenhafte Bemerkungen zur Ästhetik.1 Bei den Marburgern Neukantianer ist die Sachlage eine andere. Hermann Cohen reüssierte mit seiner zweibändigen Ästhetik des reinen Gefühls, 1912, die sechs Jahre vor dessen Tod erschien [3].2 Ihr wurde, anders als der 1901 erschienenen Allgemeine Ästhetik von Jonas Cohn, eine nicht geringe Aufmerksamkeit entgegengebracht, die weit über die Marburger Schule hinausging. Ähnliches gilt auch für Ernst Cassirer. Seine Ausführungen zur Kunst werden im Zuge der in der jüngeren Zeit erfolgten Renaissance seiner Philosophie zunehmend beachtet [5. S. 212–261]. Andere nichtkritische, werttheoretische Begründungen der Ästhetik sind, wie die der Neuen Ontologie Nicolai Hartmanns, ganz in den Hintergrund des gegenwärtigen philosophischen Interesses getreten.3 Cohns Ästhetik teilt dieses Schicksal. Selbst in den Kreisen der damaligen neukantischen Philosophie hat sie wenig Resonanz gefunden. Im gegenwärtigen kunstphilosophischen Diskurs spielt sie kaum eine Rolle.4 Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass Jonas Cohn (1869–1947), obwohl er die meiste Zeit seines Lebens in Freiburg lebte und lehrte – er habilitierte sich dort 1887 mit Unterstützung Rickerts – nicht zum engeren Kreis der Südwestdeutschen gezählt wird. Die vergleichsweise geringe Beachtung seiner Philosophie mag jedoch vor allem damit zusammenhängen, dass Cohn als jüdischer Philosoph aus Hitlerdeutschland nach England emigrieren musste. Die Dominanz fundamentalontologischen bzw. hermeneutischen, sich so oder so auf Heidegger berufenden, Philosophierens, mag im Nachkriegsdeutschland ein Übriges bewirkt haben. Kurz vor seiner Rückkehr verstarb Cohn im Jahre 1947 in Birmingham.5 Cohn konnte, anders als es ihm vorschwebte, seinen Beitrag zum philosophischen Wiederaufbau in Deutschland nicht mehr leisten. Welcher Erfolg ihm in einer bereits wieder von dem Denken und Wirken Heideggers dominierten Philosophie beschieden wäre, muss freilich dahingestellt bleiben.6 Zu einer umfassenden Würdigung oder gar zu einer Renaissance seiner Philosophie im Allgemeinen und seiner Ästhetik im Besonderen, ist es, abgesehen von Ausnahmen, bislang jedenfalls nicht gekommen.7 Dabei hat die Philosophie Cohns einiges zu bieten.8 Doch wie begründet Cohn seine Ästhetik und inwiefern kann sie heute noch von Relevanz sein? Diesen Fragen soll in sechs Punkten nachgegangen werden:
Erstens: Worin besteht nach Cohn die Besonderheit des ästhetischen Wertgebietes?
Zweitens: Was versteht Cohn unter einem ästhetischen Wert?
Drittens: Wie versucht Cohn, den Geltungsanspruch ästhetischer Werte zu begründen?
Viertens: Was besagt es, wenn ein Kunstwerk als Einheit von Ausdruck und Gestaltung bestimmt wird und welche internen Modifikationen des ästhetischen Wertgebiets werden von Cohn vorgenommen?
Fünftens: Welche Bedeutung kann das ästhetische Wertgebiet für das Kulturganze der menschlichen Kultur haben?
Sechstens: Inwiefern kann Cohns axiologische Begründung der Ästhetik heute noch systematisch von Bedeutung sein?
1. Jonas Cohn wendet sich bei seiner werttheoretischen (= axiologischen) Ästhetikbegründung gegen metaphysische, psychologische, soziologische und ethnologische Begründungsversuche [13. S. 9]. Er folgt darin dem von Kant und seinen neukantischen Nachfolgern vorgezeichneten Weg. Der kritischen Meinung entsprechend greifen solche Begründungsversuche, wie berechtigt sie für sich genommen auch sein mögen, zu kurz. Insbesondere psychologische sowie soziologische Ansätze lassen Wertungen, so wie sie im Leben der Kultur im Allgemeinen und im Leben der Kunst im Besonderen getroffen werden, unberücksichtigt. Genauer gesagt, sie behandeln ästhetische Phänomene als Tatsachen, die empirisch zu erklären sind. Auf das, was solchen Tatsachen in einem logischen Sinne als ästhetische Wertung vorausgeht, gehen sie als empirische oder positive Wissenschaften nicht ein. Ästhetische Wertungen setzen sie als bereits bestimmt voraus. Damit unterschlagen sie, was bestimmt werden müsste, wenn man einen zureichenden Begriff von einem Kunstwerk oder von einem ästhetischen Wert gewinnen möchte. Das gleiche gilt nicht nur für die positiv-empirischen Wissenschaften, sondern darüber hinaus für die Disziplinen der Kunstgeschichte und der Kunsttheorie. Doch wenn etwas als Kunstwerk bezeichnet werden soll und wenn ein Kunstwerk kunstgeschichtlich relevant sein soll, muss man sich auf die Geltung ästhetischer Werte berufen [13. S. 13].9
In Anlehnung an die kritische Philosophie Kants und seiner neukantischen Nachfolger betont Cohn dementsprechend, es müsste vorab geklärt werden, inwiefern ästhetisch Bedeutendes als ästhetisch Gewertetes verstanden werden kann. Das soll die von ihm intendierte Ästhetik als kritische Wertwissenschaft leisten. Sie hat das System der Ästhetik in ihren allgemeinen Umrissen zu entwerfen [13. S. III], ohne die einzelnen Künste oder Kunstgattungen für sich zu behandeln. Das Grundlegungsprogramm Cohns umfasst die Sicherung der Selbstgenügsamkeit der Ästhetik als eines eigenständigen Wertgebietes. Darüber hinaus will er die Bedeutsamkeit der Kunst für das menschliche Kulturganze erweisen [13. S. 14].
Cohn erkennt zwar die bahnbrechende Leistung Kants an, eine kritische Ästhetik zu etablieren. Cohn meint jedoch, Kants Lehre müsse modifiziert werden. Kant habe in seiner Begründung der Ästhetik, so wie sie in seiner Kritik der Urteilskraft (= KdU) vorliegt, zwar das Gebiet des Ästhetischen in seiner Selbstständigkeit erkannt und auch in seinen Grenzen zur Erkenntnis und zur Ethik bestimmt.10 Allerdings ist Cohn der Ansicht, Kant sei trotz seiner grundlegenden und weitreichenden Ausführungen letztlich schuldig geblieben, worin die wahre Bedeutung des Gebietes der Ästhetik bestehe. Das liege vor allem daran, dass Kants Lehre vom ästhetischen Urteil unzureichend sei. So kann Kant bestenfalls eine formalen Bestimmung des Ästhetischen (= der Kunst, der Künste, der Kunstwerke) liefern. Die inhaltliche Seite ästhetischer Werte dagegen ist ihm verschlossen geblieben, da sich Kant bei der Begründung des ästhetischen Urteils zu sehr an der Logik orientiert habe. Cohn sieht darin eine Defizienz, die er beheben will [13. S. 7]. Was er fordert, ist eine werttheoretische Fundierung der Ästhetik, die auch inhaltlich bestimmt, was ein ästhetischer Wert ist. Darüber hinaus ist anzugeben, wie sich das Wertgebiet der Ästhetik von anderen Wertgebieten unterscheidet, schließlich wie dieses Wertgebiet intern zu gliedern ist [13. S. 8, 14]. Doch was ist ein Wertgebiet?
Darunter versteht Cohn einen Umkreis von Gegenständen, Ereignissen und Tätigkeiten, sofern er unter dem Gesichtspunkt einer „gemeinsamen Wertungsart“ betrachtet werden kann [13. S. 7]. In diesem Zusammenhang unterscheidet Cohn auch zwischen Werten und Normen. Normen gehen seiner Ansicht nach zum einen aus Werten hervor. Zum anderen gehören zu Normen im Unterschied zu Werten auch die Bedingungen, die ihre Verwirklichung bewirken oder doch zu ihrer Verwirklichung beitragen können (vgl. 7).11 Den Terminus der Norm hält Cohn für die Ästhetik bzw. für das Kunstschaffen für unangebracht. Mit dem Begriff der Norm ist fälschlicherweise die Vorstellung von einer verbindlichen Regel oder Vorschrift konnotiert, der sich das künstlerische Schaffen unterzuordnen hat. Das freie künstlerische Schaffen ist für Cohn demgegenüber aber gerade kein Arbeiten nach Regeln oder Vorschriften [13. S. 8]. Ästhetische Werte müssen nämlich als „immanente Gesetzlichkeit des schaffenden Genies“ verstanden werden [13. S. 8]. Kunst, schöne Kunst, ist für Cohn ganz in der Diktion Kants, die Kunst des Genies.12
Cohn kritisiert an Kants Ästhetikbegründung, wie schon bemerkt wurde, insbesondere dessen Lehre vom ästhetischen Urteil. Kants Auffassung sei unzutreffend, da es sich bei dem, was Kant unter einem ästhetischen Urteil versteht, genau genommen nicht um ein Urteil, sondern um eine „Beurteilung“ handelt [13. S. 17f.]. Von einer Beurteilung ist nach Cohns Ansicht zu sprechen, da mit einem ästhetischen Urteil nicht eine objektiv feststellbare Eigenschaft behauptet wird. Demgegenüber ist es notwendig, von einer ästhetischen Beurteilung, von einem ästhetischen Werturteil, zu sprechen.
Cohn geht bei seiner Argumentation von der Tatsache aus, dass dem ästhetisch zu Bewertenden bzw. dem Bewerteten (= das Subjekt des ästhetischen Urteils) sinnlich wahrnehmbare und demzufolge anschauliche Qualität zukommen muss. Mit der Konsequenz: Ein ästhetisches Phänomen, ein Kunstwerk, wird so aufgefasst und bewertet, wie es erscheint, wie es sich in seiner konkret-anschaulichen Einzelheit darbietet. Das Werteprädikat des Schönen wird Cohn demzufolge einer Anschauung als einem unmittelbaren Erlebnis zugesprochen [13. S. 20].
Die unmittelbar-ästhetische Anschauung kann, anders als in den Erfahrungswissenschaften, frei und unabhängig von empirischen Realitätsbezügen erlebt und beurteilt werden.13 Das Wertprädikat des Schönen gilt der einzelnen Anschauung, die unmittelbar erscheint. Nur konkret-Besonderes oder Einzelnes kann ästhetisch beurteilt werden.14 Das lässt sich auch mit Abwandlungen auf Handlungen übertragen. Ästhetisch relevant sind einzelne Handlungen so, wie sie uns anschaulich erscheinen.
Cohn wendet sich in diesem Zusammenhang gegen verengende realistische Vorstellungen, wonach anschauliche Gegebenheiten fixe Gegebenheiten oder objektivierbare Daten sein müssten. Er betont demgegenüber, dass der scheinbar gleiche Sinneseindruck nicht die gleiche Anschauung hervorbringe, sondern von der Sichtweise bzw. dem Interesse der Betrachtenden abhänge [13. S. 22]. Die Kenntnisse und Erfahrungen, die in die jeweilige Anschauung eines einzelnen Menschen eingehen, sind Cohn zufolge erworben bzw. weisen nicht nur sinnliche, sondern immer auch sinnhafte Momente auf. Eine von sinnhaften Faktoren unabhängige, interpretationsfreie Wahrnehmung kann es nicht geben.15
Darüber hinaus ist Cohn mit Kant auch davon überzeugt, ästhetisches Erleben lasse sich nicht wissenschaftlich vermitteln. Wissenschaften von den einzelnen Künsten, aber auch die Kunstgeschichtsschreibung, könnten bestenfalls propädeutische Zwecke erfüllen, in dem sie die kontextuellen Bedingungen eines Kunstwerk thematisieren. Das künstlerische Erleben lässt sich auf diese Weise weder ersetzen noch hervorrufen oder bewirken.
Ästhetisches Erleben ergebe sich erst dann, wenn auf die außerästhetischen Kontextbedingungen eines Kunstwerks nicht reflektiert, sondern wenn von diesen geradezu abgesehen wird. Historische oder wissenschaftlich fundierte Kenntnisse können aus diesem Grund das Verstehen von Kunstwerken zwar vorbereiten, ermöglichen können sie es nicht. Erst wenn Kunstwerke „unmittelbar zu uns sprechen und sich uns erschließen, haben wir einen wahren Genuss von ihnen“ [13. S. 22].
2. Cohn grenzt das Wertgebiet der Ästhetik von den Wertgebieten der Erkenntnis und der Ethik ab, indem er die Gemeinsamkeit, aber auch die Unterschiede dieser Wertgebiete benennt. Was die Gemeinsamkeiten betrifft, so handelt es sich bei ästhetischen Werten wie auch bei den theoretischen oder logischen Werten der Wahrheit und den ethischen Werten des Guten um intensive Werte.16 Mit intensiven Werten sind Werte gemeint, die dann gelten, wenn etwas um seiner selbst willen geschätzt wird. Demzufolge sind solche Werte durch ihren Selbstzweck charakterisiert. Sie sind selbstgenügsam oder, wie Cohn auch sagt, es handelt sich bei ihnen um intensive Werte. Doch worin unterscheiden sich ästhetische Werte von theoretischen und ethischen Werten?
Was zunächst die theoretische Erkenntnis (Logik und Wissenschaften) und ihren Wahrheitswert betrifft, so unterscheidet sie sich grundlegend von dem, womit es die Ästhetik zu tun hat. Theoretische, wahrheitswertige Erkenntnis ist systematische Erkenntnis, ihr Ziel ist die zusammenhängende Erkenntnis eines Ganzen [13. S. 283f.]. Wissenschaftliche Einzelerkenntnisse gewinnen ihre Bedeutsamkeit bzw. ihren theoretisch-wissenschaftlichen Wahrheitswert im Zusammenhang mit anderen Tatsachenbehauptungen. Jede einzelne von ihnen wird erst durch ihre Bedeutung für das Gesamtwissen wertvoll [13. S. 26]. Der bloß intensive Wert des Wahren weist über sich auf den Begründungszusammenhang und damit auf einen Systemzusammenhang. Wahrheitswerte sind demzufolge „transgredient“ [13. S. 27].
Anders verhält es sich mit der unmittelbaren ästhetischen Anschauung. Sie ist keineswegs in einen systematischen Zusammenhang eingebunden, Kunstwerke stehen für sich [13. S. 26f.]. Der Begriff der Kunst ist demzufolge lediglich ein Allgemeinbegriff, der eine Vielzahl von Einzelkunstwerken unter sich fasst. Ein Kunstwerk ist etwas für sich Bestehendes und in sich ruhendes Ganzes [13. S. 26f.]. Sein ästhetischer Wert „liegt rein in ihm selbst“ und nicht in dem Beitrag, den ein Kunstwerk zu einem Ganzen leistet [13. S. 26]. Wenn der intensive Wert des Schönen ganz in dem einzelnen Kunstwerk ruht, dann ist er ist ihm immanent [13. S. 27]. Ästhetische Werte sind – das ist für Cohn der entscheidende Punkt – nicht nur intensiv (= selbstgenügsam), sondern sie sind intensiv und immanent. Kurz und zusammenfassend, ästhetische Werte als intensive und immanente Werte sind rein intensive Werte (vgl. ebd.).
Die Kunstbetrachtung ruht zudem „völlig in dem Akte des Aufnehmens“ [13. S. 29]. Das heißt, der ästhetische Eindruck greift nicht in die Welt ethisch-praktischen Handelns ein (vgl. 29). Ein solches Eingreifen hätte ein Absehen von der ästhetischen Einstellung zur Folge [13. S. 29]. Die ästhetische Einstellung darf durch keinerlei andere, also außerästhetische, Interessen abgelenkt oder gestört werden. Die ästhetische Einstellung ist von solchen nichtästhetischen „Verflechtungen“ freizuhalten bzw. aus ihnen herauszulösen [13. S. 30]. Die unmittelbare ästhetische Anschauung bzw. ein Kunstwerk gefällt, wie nochmals zu betonen ist, für sich.17
In einem anderen Sinne lässt sich Cohn zufolge aber von einem ästhetischen Handeln bzw. einer ästhetischen Tätigkeit sprechen. Das gilt für das Kunstschaffen. Beim Kunstschaffen wird etwas hervorgebracht [13. S. 34]. Alle damit verbundenen Aktivitäten zielen auf das Schaffen von Kunstwerken. Was hierbei allein zählt, ist das zu schaffende und geschaffene, das zu vollendende und das vollendete Kunstwerk [13. S. 30]. Ästhetisches Handeln, Kunstschaffen, findet im Kunstwerk sein Ziel und seinen Abschluss. Darin liegt: Ein Kunstwerk kann als Ganzes bzw. in seiner Ganzheit nicht übertroffen werden [13. S. 22].18 Anders verhält es sich bei ethisch relevanten Handlungen, da sie ihre wertbezogene Stellung durch einen umfassenderen Zusammenhang enthalten. Sie ruhen nicht in sich, sondern sie weisen über sich hinaus. Ethische Werte sind keineswegs immanent, sondern – wenn auch in einem anderen Sinne als die theoretisch-logischen Werte – ebenfalls transgredient.
3. Wenn ästhetische Werte einen Anspruch auf allgemeine, überindividuelle Geltung erheben, dann stellt sich die Frage, wie sich dieser Anspruch begründen lässt. Cohn zufolge haben ästhetische Werte „Forderungscharakter“ [13. S. 37ff.], das heißt sie beanspruchen überindividuelle Verbindlichkeit für sich. Der Geltungsanspruch bzw. der Forderungscharakter ästhetischer Werte unterscheidet sich jedoch fundamental von anderen Forderungswerten – insbesondere von denen des Logischen [13. S. 40] und Ethischen.
Wollte man die Werte des Logischen in Zweifel ziehen oder sie als Bedingungen formal-richtigen Denkens negieren, so würde sich dadurch das Denken selbst aufheben. Bei ästhetischen Werten verhält es sich anders. Sie können nicht die Notwendigkeit logischer Werte für sich beanspruchen. Dass es sich bei ästhetischen Werten dennoch um Forderungswerte handelt, die für sich eine allgemeine Verbindlichkeit reklamieren, zeigt sich für Cohn am kulturellen Faktum der Kunst. Wollte man leugnen, dass es Kunst, Künste bzw. Kunstwerke gibt, dann müsste man zugeben, dass sich das Kunstschöne nicht vom Angenehmen unterscheiden ließ. Kunstwerke hätten dann ihre Daseinsberechtigung verloren und glichen Luxusgütern, die allein der Bequemlichkeit und dem Wohlleben bzw. Wohlempfinden dienen. Ästhetisches Erleben geht aber über solches subjektives Wohlempfinden hinaus [13. S. 41f.]. Etwas bloß Angenehmes – darin folgt Cohn Kant in etwas anderer Diktion – kann keinen Forderungswert besitzen [13. S. 48]. Doch wie lässt sich der ästhetischen Werten zukommende Forderungscharakter begründen?
Cohn räumt zunächst ein, man müsse sich im Wertgebiet des Ästhetischen auf etwas berufen, was nur „erlebbar“, nicht aber „beweisbar“ ist [13. S. 42]. Das, was „erlebbar“ ist, lässt sich – wie Cohn mit Kant argumentiert – weder logisch deduzieren, noch begrifflich bestimmen. Aus diesem Grund klafft eine „Lücke“ in der Argumentation. Sie lässt sich nicht beseitigen, sondern sie muss anerkannt werden, wenn man nicht der Versuchung erliegen will, den Forderungscharakter ästhetischer Werte aus einem anderen Forderungscharakter, dem der logischer Werte, abzuleiten. Cohn kritisiert an Kant, er sei von dieser Versuchung nicht ganz frei, da er versucht habe, auf diese Weise die Allgemeinheit und Notwendigkeit des ästhetischen Urteils zu begründen. Das zeigt sich besonders an dem dritten Moment eines ästhetischen Urteils: Das, was zweckmäßig ist, muss für den Verstand zweckmäßig sein [13. S. 43].19 Wenn diese Gefahr und die Gefahr des mit ihr implizierten Formalismus vermieden und die Geltung eines ästhetischen Urteils dennoch begründet werden soll, dann kann das nur bedeuten, dass sich die „Zweckmäßigkeit“ einer ästhetischen Anschauung für den menschlichen Verstand „unmittelbar offenbaren“ muss [13. S. 44]. Die „Zweckmäßigkeit“ – Kant spricht im Unterschied zu Cohn von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck als drittem Moment des Schönen (vgl. KdU § 17) – einer ästhetischen Anschauung lässt sich, wie Cohn mit Kant übereinstimmend ausführt, nicht begrifflich-rational beweisen bzw. sie kann nicht „andemonstriert“ werden [13. S. 44]. Die „Kraft der Gründe“ kann bei der Geltungsbegründung ästhetischer Urteile also nicht ausschlaggebend sein. Doch folgt daraus, dass ästhetische Urteile bloß subjektiv-beliebig sind?
Cohn verneint diese Frage mit dem Hinweis auf die Geschichte der Kunst, die für ihn der „Kampfplatz“ der ästhetischen Werte ist [13. S. 44]. Eine solche Auseinandersetzung um die Gültigkeit ästhetischer Werte kann nur dann sinnvoll sein, wenn mit ästhetischen Werten eine überindividuelle Allgemeinheit beansprucht wird. Andernfalls hätte es wenig Sinn, sich über die Gültigkeit ästhetischer Werte – folglich über den Rang von Kunstwerken – zu streiten. Dieser Streit perenniert: „Die Sieger im Kampfe sind die großen Kunstwerke, der Streit ruht nicht“ [13. S. 45]. Cohn gibt zu, dass der Bezug auf die kunstgeschichtliche Anerkennung nur ein vages Eingeständnis sein kann. Das muss aber eingestanden werden, da es in der Kunst und in Kunstdingen keine objektiv-gültige Entscheidung geben kann. Ein solches Eingeständnis muss allerdings kein „Todesurteil“ [13. S. 44] für die Ästhetik als kritischer Wertlehre bedeuten. Denn die allgemeinen Bedingungen ästhetischer Wertungen lassen sich dennoch, wenn auch nur, prinzipiell angeben. Über die Anwendbarkeit ästhetischer Wertungen kann jedoch immer nur im Einzelfall für ein bestimmtes Kunstwerk und für das mit ihm inhärente „unmittelbare Erleben“ entschieden werden. Bei der dazu erforderlichen Bildung des ästhetischen Geschmacks ist die „Rechenschaft“ über das, was gefällt und was nicht gefällt, ausschlaggebend [13. S. 46]. Eine solche Rechtfertigung ist nicht im Vollzug des Kunstgenusses, sondern erst nach ihm möglich.20 Zudem ist sie, wie bereits gesagt, eine Frage der ästhetischen Bildung. Aus diesem Grund kommt es darauf an, eine Bereitschaft, ein Bewusstsein für die Aufnahme von Kunstwerken zu entwickeln. Nicht zuletzt aus diesem Grund plädiert Cohn für eine möglichst umfassende, die eigene kulturelle Tradition überschreitende, ästhetische Bildung. Ästhetische Bildung setzt ein Versenken in Kunstwerke voraus, was nicht ohne Anstrengung, ohne Bemühung möglich ist. An diesem Bemühen um ästhetische Bildung zeigt sich für Cohn nochmals von einer anderen Seite der überindividuelle Forderungscharakter ästhetischer Werte [13. S. 45]. Bei der Ausbildung des ästhetischen Geschmacks lassen sich individuelle, soziale und kulturell geprägte ästhetische Einstellungen und Bewertungen zugunsten einer umfassenderen ästhetischen Sichtweise überwinden, die Kunstwerke auch anderer als der eigenen kulturellen Herkunft zu würdigen weiß.21 Fremde oder fremdgewordene Welten der Kunst können so dem individuellen wie dem kollektiven ästhetischen Nacherleben erschlossen werden [13. S. 46]. Daraus resultiert die Aufgabe einer ästhetischen Selbsterziehung des Einzelnen sowie für die Pädagogik und die Kunstpolitik die Aufgabe der öffentlichen Pflege und Vermittlung des Schönen [13. S. 265]. Schließlich weist Cohn darauf hin, dass sich zu jeder Zeit und in jeder Kultur ein „Kanon des ästhetisch Bedeutenden“ [13. S. 92] ausbilde. Das Bestehen eines solchen Kanons kann wiederum als Beleg für die allgemeine, überindividuelle – wenn auch nicht objektive – Geltung ästhetischer Werte dienen. Die zeit- und kulturspezifische Relativität eines solchen Kanons ist kein Gegenargument gegen die beanspruchte überindividuelle Allgemeinheit ästhetischer Werte.
Mit diesen Ausführungen ist für Cohn der Forderungscharakter des ästhetischen Wertegebietes nachgewiesen. Über die Geltungsbegründung einzelner ästhetischer Beurteilungen ist damit allerdings noch nichts entschieden [13. S. 40].
4. Die vorgenommenen formalen werttheoretischen Bestimmungen genügen Cohns Ansicht nach nicht, um das ästhetische Wertgebiet schon vollständig zu erfassen. Formale Analysen des Geschmacksurteils, wie sie Kant durchgeführt hat, reichen, wie Cohn wiederholt betont, dazu nicht aus [13. S. 47]. Cohn wirft Kant methodologische Einseitigkeit vor. Sie hätte ihn daran gehindert, die Ausdrucksseite – und damit das Inhaltliche – des Ästhetischen zu fassen [13. S. 184f.].22
Um diesen Fehler zu vermeiden, intendiert Cohn, die von ihm bislang formal bestimmten ästhetischen Werte durch inhaltliche Bestimmungen, das heißt durch Ausdruckswerte, zu ergänzen. Gemäß der Lehre vom Inhalt ästhetischer Werte, die Cohn in diesem Zusammenhang entwickelt, hat ein individuell-konkreter sinnlicher Eindruck zwar einen intensiven, aber deshalb noch keinen rein intensiven ästhetischen Wert. Ein sinnlicher Eindruck ist individuell, er kann für sich keine allgemeine Verbindlichkeit fordern. Er hat keinen Forderungscharakter. Die Voraussetzung für den Forderungscharakter ist erst dann gegeben, wenn eine unmittelbare ästhetische Anschauung der „Ausdruck eines inneren Lebens“ [13. S. 49] ist. Das heißt, Inneres muss in einem sinnlich-wahrnehmbaren Medium objektiviert werden. Das ist eine notwendige Voraussetzung, sollen Äußerungen von anderen Menschen verstanden werden können [13. S. 49f., 63]. Der objektivierte Ausdruck kann dann durch das mitfühlende Hineinversetzen, das zugleich das Verstehen der ausgedrückten fremden Individualität ermöglicht, von anderen Menschen nacherlebt werden. Für ein „Nachleben“ bzw. Verstehen fremder Individualität ist ein Kunstwerk besonders prädestiniert. Der Grund liegt für Cohn in Folgendem: Bei der höchsten Vollendung des ästhetischen Erlebens, die ein Kunstwerk zu bewirken vermag, kann es zu einer „Durchbrechung der Individualität“ [13. S. 65] kommen. Die „Versenkung“ in eine ästhetische Anschauung reicht im extremen Fall bis zur „Entzückung“. Sie ist der höchste Gipfel des Kunstgenusses bzw. des rein intensiven ästhetischen Erlebens [13. S. 64f.].23 Solches ästhetische Erleben geht keineswegs über das in dem Erleben Angeschaute hinaus, sondern die rein intensive, ästhetische Anschauung steht für sich. Solches Erleben ist charakteristisch für das Schöne im engeren Sinne [13. S. 67]. Cohn betont, dass nicht der Inhalt des Dargestellten – weder dessen inhaltlicher Reichtum, noch dessen sittlicher Wert oder Erkenntniswert – ästhetisches Erleben ermöglicht. Ästhetisches Erleben ist solchen außerästhetischen Inhalten gegenüber wertindifferent. Was Kunstwerke dagegen wertvoll bzw. ästhetisch different macht, sind die Momente, die rein intensives ästhetisches Erleben ermöglichen. Das künstlerische Schaffen hat demzufolge die Aufgabe, genau solche Momente des ästhetischen Erlebens zu erschaffen. Dazu gehört: Bisher nicht Erlebtes oder nicht Erfahrenes kann im ästhetischen Erleben rein intensiv erfahren werden, wobei den Bereichen menschlichen Erlebens fast keine Grenzen gesetzt sind [13. S. 69]. Ungeahntes Erleben kann in der Kunst bzw. durch Kunstwerke erschlossen werden. Der „Entdeckerblick“ der Kunstschaffenden vermag es nämlich, bisher unbekannte Bereiche menschlichen Erlebens zu erschließen [13. S. 69].24 In der menschlichen Lebenswelt liegt für den künstlerischen Blick in allen ihren Bereichen eine Bedeutung, die kein anderer in seiner ästhetischen Relevanz zu entdecken vermag [13. S. 151].
Ästhetisches Erleben kann deshalb auch nichts mit „Wahrheit“ zu tun haben, wenn darunter eine irgendwie gedachte Übereinstimmung des künstlerisch Dargestellten mit der außerästhetischen Wirklichkeit verstanden werden soll [13. S. 70ff.]. Ein solcher Wahrheitsbegriff ist für rein intensives ästhetisches Erleben ebenso irrelevant wie die Auffassung von der Kunst als Nachahmung oder Abbildung „der“ Wirklichkeit.25 Bei dem, was durch Kunstwerke entdeckt zu werden vermag, geht es auch nicht um das sinnliche Erscheinen der Idee, wie es der platonische Idealismus und die in dieser Tradition stehende Ästhetik Hegels propagierte.26 Denn wenn man den Begriff der Wahrheit im Zusammenhang der Ästhetik verwenden will, so kann mit ihm allenfalls eine „innere“ ästhetische „Wahrheit“ gemeint sein. Diese Wahrheit lässt sich Cohn zufolge nicht abbildtheoretisch begründen. Gemeint ist mit der inneren Wahrheit nämlich die Übereinstimmung aller Teile einer rein intensiven Anschauung bzw. eines Kunstwerks mit der Idee des Ganzen eines Kunstwerkes. Es geht, wie Cohn sich in diesem Zusammenhang auch ausdrückt, um die „Lebensfähigkeit des Werkes aufgrund der ihm immanenten Gesetze“ [13. S. 71].
Cohn fragt also nicht nach der Wahrheit eines Kunstwerks im Sinne einer ästhetischen Nachahmungs- oder Abbildtheorie, sondern ihn interessieren die einem Kunstwerk immanenten Gesetze oder Prinzipien seiner Gestaltung. Doch was ist mit diesen Prinzipien gemeint?
Kunstwerke als ästhetische Gestaltungen müssen ein in sich geschlossenes, für das Erleben leicht auffassbares Ganzes bilden, weshalb alle störenden bzw. unangemessenen Eindrücke auszusondern sind. Anders kann die innere Beschaffenheit eines ästhetischen Eindruckes nicht klar hervortreten [13. S. 75]. Das heißt, solche Eindrücke müssen in angemessener Weise in einem Material objektiviert werden. Als Material einer künstlerischen Objektivierung kann Cohn zufolge alles in Frage kommen, was sich aufgrund seiner Materialbeschaffenheit formen lässt und was ein von seiner Formung unabhängiges Dasein haben kann. Der Begriff der ästhetischen Objektivation bzw. Objektivierung wird von Cohn so weit und so flexibel gefasst, dass auch der Körper des Menschen sowie körperbezogene Expressionen als künstlerische Medien in Frage kommen können [13. S. 80]).
Die unterschiedlichen Materialien künstlerischer Objektivierungen ermöglichen es darüber hinaus, einzelne Künste voneinander zu unterscheiden. Aufgrund dieses Einteilungsprinzips ist es möglich, ein System der Künste hinsichtlich ihrer Materialbeschaffenheit zu skizzieren [13. S. 90ff.]. Doch Künste bzw. einzelne Kunstgattungen lassen sich nicht nur in dieser Hinsicht unterscheiden: Wenn die künstlerische Tätigkeit die Aufgabe hat, ästhetische Werte hervorzubringen [13. S. 93], dann differieren Kunstwerke auch darin, wie sie ästhetische Werte hervorbringen. Sie unterscheiden sich durch den Grad des Forderungscharakters, der mit ihnen impliziert ist. Aus diesem Grund unterscheidet Cohn zwischen Haupt- und Nebenkünsten. So gibt es die reinen oder freien Künste, aber auch die angewandten oder unfreien Künste, worunter Cohn das Kunstgewerbe versteht. Bei den angewandten oder unfreien Künsten ist im Unterschied zu den reinen oder freien Künsten der ästhetische Wert mit einem außerästhetischen Wert oder Zweck verbunden (vgl. ebd.). Es kann demzufolge zu dem Zusammentreffen zweier Wertungen kommen, wie dem Wert des Schönen und den Werten des Nützlichen oder Zweckmäßigen. Das kann beispielsweise bei einem Bauwerk bzw. bei der Architektur als Kunstform der Fall sein (vgl. u.a. [13. S. 224]). Doch selbst wenn es zum Zusammenspiel mehrerer Werte aus unterschiedlichen Wertgebieten kommen kann, hält Cohn an seiner Grundthese fest: Schön ist etwas nur dann, wenn ihm ein rein intensiver Wert zugesprochen werden kann.
Was die in Frage stehenden engeren Prinzipien ästhetischer Gestaltung betrifft, so wird durch sie ein Kunstwerk von all dem, was es nicht ist, abgesondert: Ein Kunstwerk ist etwas Isoliertes.27 Das heißt, ein Kunstwerk kann nur die ihm eigene Form erhalten, wenn es als etwas Identisches vorgestellt wird [13. S. 81]: Das für sich und in sich abgeschlossene Ganze eines Kunstwerks muss eine innere Einheit aufweisen, wenn ein einheitlich-homogenes, nicht disparates Nacherleben möglich sein soll [13. S. 83]. Daraus ergibt sich für Cohn zusammenfassend: Ästhetisches Erleben ist das unmittelbare „Nachleben“ einer Anschauung als eines gestalteten Ausdrucks. Und Kunst ist Gestaltung und Ausdruck, ein Kunstwerk ist die Einheit von Ausdruck und Gestaltung [13. S. 104]. Der „Kern des Ästhetischen“ liegt demzufolge dort, wo die beiden Seiten das Ausdrucks und der Gestaltung am vollkommensten miteinander entwickelt sind [13. S. 125].28 Die Gestaltung ist abhängig vom Ausdruck, wie umgekehrt der Ausdruck abhängig von der Gestaltung ist. Das hat auch zur Folge, dass sich das „Unbeschreibliche“ eines jeden echten Kunstwerks, also sein singulärer Wert, in der ihm jeweils eigenen vollendeten Einheit von Ausdruck und Gestaltung zeigt [13. S. 127f.].29 Die vollendete Einheit eines Kunstwerks, das Zusammenstimmen von Ausdruck und Gestaltung, darf jedoch keineswegs als etwas Selbstverständliches oder gar etwas Vorliegendes aufgefasst werden: Sie ist das Produkt des künstlerischen Genies.30 Die von ihm geschaffene Einstimmigkeit eines Kunstwerks ist die höchste Forderung, die sich an ein Kunstwerk stellen lässt. Die Ausdrucks- und Gestaltungsprinzipien bestehen in diesem Fall nicht isoliert und unabhängig für sich, sondern sie sind aufeinander bezogen und durchdringen einander: Bei einem vollendeten Kunstwerk sind Ausdruck und Gestaltung innerlich eines [13. S. 128]. Das Zusammensein von Gestaltung und Ausdruck ist für Cohn notwendig im Sinne einer Tatsache oder eines Faktums. Genauer gesagt, die Einstimmigkeit und Zusammengehörigkeit von Gestaltung und Ausdruck implizieren für Cohn eine Notwendigkeit: die Notwendigkeit einer ästhetischen Forderung oder eines ästhetischen Sollens.31
Ästhetische Einstimmigkeit bzw. das Zusammenstimmen von Gestaltung und Ausdruck und das damit verbundene unmittelbare Erleben wird Cohn zufolge von den ästhetischen Werten der Klarheit und Deutlichkeit bedingt [13. S. 88ff.].32 Mit dem ästhetischen Wert der Klarheit ist gemeint, dass die für ein Kunstwerk relevanten Merkmale in möglichst charakteristischer Weise hervorgehoben werden müssen, wenn eine unmittelbare Einsicht des anschaulichen Erlebens bewirkt werden soll.33 Bei dem ästhetischen Wert der Deutlichkeit geht es um das Verhältnis der Teile zum Ganzen eines Kunstwerks. Das heißt, die Verbindung aller seiner Teile zu einem einheitlichen Ganzen muss in einem Kunstwerk deutlich werden [13. S. 90]. Sie sind vollständig und bilden eine Einheit, die vollständige Einheit eines Kunstwerks. Bei den ästhetischen Werten der Klarheit und Deutlichkeit im Verbund mit der Vollständigkeit und Einheit eines Kunstwerks handelt es sich um ästhetische Formungsprinzipien [13. S. 166]. Gelten diese Werte, dann lässt sich ein Kunstwerk als schön beurteilen.34 Umgekehrt gilt: Gelten diese Werte nicht bzw. werden diese ästhetischen Formungsprinzipien willkürlich verletzt, dann ist das so Beurteilte als hässlich zu bezeichnen [13. S. 188f.].
Mit seiner Auffassung, dass die von ihm angeführten ästhetischen Gestaltungsprinzipien einen eigenen Ausdruckswert aufweisen müssten [13. S. 166f.], geht Cohn über die Kantische Lehrmeinung bzw. über dessen Ästhetikbegründung hinaus. Denn Cohn meint, einer jeden künstlerisch durchgeformten Gestalt müsste eine je bestimmte Art des in und mit ihr ausgedrückten Innenlebens entsprechen [13. S. 167]. Ausdruck und Gestaltung sind komplementär, genauer gesagt, sie bilden für Cohn eine innerliche, das heißt korrelative Einheit. Das bedeutet: Unterschiedliche Einheitsbildungen ergeben jeweils andere interne Modifikationen des ästhetischen Wertgebietes. Diese Unterschiede betreffen das Verhältnis von Ausdruck und Gestaltung. Cohn differenziert in diesem Zusammenhang zwischen zwei Hauptgruppen von ästhetischen Ausdruckswerten: Zu der einen Gruppe gehören solche, bei denen die ausgedrückten Inhalte direkt den ästhetischen Formungsprinzipien entsprechen. Bei ihnen handelt es sich um „konfliktlose“ Modifikationen ästhetischer Werte [13. S. 167]. Gemeint sind solche Wertmodifikationen, bei denen die Formungsprinzipien zugleich Ausdrucksmittel sind. Bei ihnen offenbart sich der Ausdruck harmonisch in der Form [13. S. 168ff.]. Die Harmonie ist, wie Cohn dementsprechend meint, die naturgemäße Form des Ästhetischen [13. S. 185]. Bei solchen ästhetischen Formen handelt es sich um das „reine“ Schöne, das den „Kern“ des ästhetischen Wertgebietes bildet.35
Bei der anderen Hauptgruppe ist die Einheit bzw. das Entsprechungsverhältnis von Ausdruck und Gestaltung nicht vollständig, es bleibt ein ungestalteter Rest. Das Verhältnis der ästhetischen Werte ist deshalb „konflikthaltig“. Dazu rechnet Cohn die Werte des Erhabenen, des Tragischen und des Komischen. Dem ist im Einzelnen kurz nachzugehen.
Bei dem ästhetischen Wert des Erhabenen werden die ästhetischen Formprinzipien einerseits gewahrt und anderseits zugleich durchbrochen [13. S. 179ff.]. Wenn das über alle Maße Große rein intensiv (= ästhetisch) erlebt werden soll, dann entsteht ein Konflikt. Die Harmonie, die für das rein Schöne charakteristisch ist, ist durch das Erhabene, das aufgrund seiner maßlosen, unvergleichlichen bzw. unangemessenen Größe einer harmonischen Darstellung widerspricht, gestört. Diese „fremde Einmischung“ in das Gebiet des Ästhetisch deutet Cohn psychologisch als Unlust, die dem ästhetischen Erleben beigemischt ist [13. S. 185f].36 Die ästhetischen Werte des rein Schönen und des Erhabenen können zueinander in mannigfaltige Beziehungen treten. Konfligierende Werte können aber auch in dem gleichen Gegenstand bzw. Kunstwerk miteinander verbunden sein [13. S. 187].37 Den ästhetischen Wert des Tragischen betrachtet Cohn als eine werthafte Unterform des Erhabenen, da ein Zusammenhang zwischen dem Leiden, der Größe und dem Scheitern besteht [13. S. 190 ff.]. Was schließlich das Komische als ästhetischen Wert angeht, so ist für Cohn klar, dass es nicht vollständig in das Gebiet des Ästhetischen fallen kann, da etwas Komisches für sich genommen noch keinen ästhetischen Wert hat. Cohn spricht bei den Unterarten der ästhetischen Werte des Erhabenen, des Tragischen und des Komischen von „halbästhetischen“ Werten. Allerdings lassen sie sich nicht immer scharf von den rein ästhetischen Werten abgrenzen. Es ergibt sich eine Reihe von Mittelgliedern oder Wertbereichen, die Cohn allerdings nicht weiter bestimmt [13. S. 223].
5. Die logischen, ethischen und ästhetischen Wertgebiete, die sich alle zum Kulturleben des Menschen rechnen lassen, bilden Cohn zufolge ein System. Er lässt jedoch offen, ob es sich dabei um ein vollständiges Wertesystem handelt. Das zu untersuchen, wäre die Aufgabe einer allgemeinen Wertwissenschaft [13. S. 228]. Die drei kulturellen Wertgebiete sind souverän und für sich berechtigt, sie lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Sie sind komplementär [13. S. 282, 226]. Jedes dieser Wertgebiete ist aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit an seinen eigenen Maßstäben, das heißt seinen eigenen Werten, zu bemessen. Gleichwohl gibt es Beziehungen, aber auch Konflikte, zwischen den einzelnen Wertgebieten.
Was die Beziehung des Ästhetischen zur Logik, zur Erkenntnis oder zur Ethik betrifft, so sind ästhetische Werte gegenüber diesen Wertgebieten indifferent [13. S. 246 ff.]. Das besagt, weder logische oder wissenschaftlich wertvolle Wahrheit noch ethisch wertvolles Gutsein können für sich genommen ästhetisch wertvoll sein [13. S. 254 ff.]. Anders gesagt, weder eine wissenschaftlich wertvolle Wahrheit noch ethisches Gutsein sind, falls sie anschaulich gemacht werden (können), schön (vgl. 249). Das, was schön ist, hat sein Daseinsrecht in sich, zu seiner Rechtfertigung benötigt es keinen Hinweis auf irgendeine außer ihm liegende Tatsache oder den Bezug auf sittliches Handeln [13. S. 252, 255f.]. Ein Kunstwerk darf aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit weder zum Werkzeug der Sittlichkeit gemacht werden noch lässt es sich als eine besondere oder gar „tiefere“ Form von Wahrheit ansehen [13. S. 268 ff.].
Doch worin besteht die Bedeutung des ästhetischen Wertgebietes im Kulturganzen? Das ästhetisch bewertete Erlebnis, ein Kunstwerk, bildet für Cohn, wie ausgeführt wurde, eine Einheit von Ausdruck und Gestaltung. Das bedeutet zweierlei: Zum einen bedeutet es, ein Kunstwerk ist gestalteter Ausdruck von Kunstschaffenden, und zum anderen bedeutet es, Kunstaufnehmende versuchen, diesen so gestalteten Ausdruck zu verstehen. Betrachtet man dieses Verhältnis unter einem sozialen, das heißt in diesem Falle unter einem kommunikativen, Aspekt, so wird klar, dass es sich bei dem, was verstanden werden soll, um menschliche Mitteilung handelt [13. S. 228f.]. Die Form der Mitteilung, wie sie in der Kunst und den Künsten durch die vermittelnde Funktion von Kunstwerken erfolgen kann, ist trotz der individuellen Einzelheit von Kunstwerken überpersönlich oder überindividuell. Überindividuelle Formen der Mitteilung gehören zur menschlichen Kultur, sie sind das Mittel aller Kultur. Das zeigt schon das allgemeine Kommunikationsmedium der Sprache. Alle Formen menschlicher Kultur sind sprachgebunden bzw. sie weisen letztlich auf die Sprache zurück [13. S. 231ff.].
Der Sonderfall, der bei dem Wertgebiet der Ästhetik vorliegt, besteht allerdings darin, dass die ästhetische Mitteilung, wie sie durch ein Kunstwerk möglich ist, rein intensiv ist. Sie ist rein intensiv, wenn sie um ihrer selbst willen gepflegt wird [13. S. 231].38 Sie ist unmittelbar anschaulich, weshalb Kunstwerke spezifische Möglichkeiten der menschlichen Kommunikation eröffnen. Weil Kunstwerke in der ihnen eigenen unmittelbar-anschaulichen Weise zum gegenseitigen Verständnis zwischen Menschen beitragen können, ist ihnen ein besonders hoher Kulturwert eigen [13. S. 233]. Darin besteht nach Cohns Auffassung die Sonderstellung des Wertgebiets des Ästhetischen in der Gesamtheit der menschlichen Kultur [13. S. 239]. Die Wertgebiete der Logik, der Erkenntnis und der Ethik fordern nach Cohns Ansicht eine Ergänzung durch die rein intensive Mitteilung, so wie sie durch Kunstwerke möglich wird [13. S. 237]. Denn jede andere als die ästhetische Kulturarbeit beinhaltet ein „transgedientes“ und damit ein diskursives Element. Cohn meint mit der Diskursivität den sukzessiven, geregelten Prozess des Fortschreitens vom einen zum anderen. Die logische Verknüpfung von Gedanken, ihr logisch geregelter Zusammenhang, ist demzufolge ein wesentliches Kennzeichen des Diskursiven [13. S. 238]. Das Einzelne hat im Zusammenhang des diskursiven Kontextes nur eine beschränkte, dienende Stellung. Ein solcher Zusammenhang und ein solches Fortschreiten widerstreben der Vorstellung von einer Vollendung.
Überträgt man diese Auffassung vom Diskursiven auf die Kultur des Menschen, dann geht der Kulturzusammenhang als ein vollendetes Ganzes für den einzelnen Kulturmenschen verloren [13. S. 241].39 Diese damit einhergehende kulturelle Vereinzelung kann Cohn zufolge durch lebendige Anschauungen überwunden werden, wenn sie als Lebensformen Bestandteile des individuellen wie auch des kulturellen Lebens verstanden werden können. Auch von dieser Seite zeigt sich nochmals die Sonderstellung der Kunst oder des Ästhetischen: Anders als andere Kulturformen greifen Kunstwerke nicht aktiv-handelnd in kulturelle Prozesse ein. Anders als die Unvollendbarkeit, die dem Erkennen und dem sittlichen Handeln eigen ist, ist ein Kunstwerk als unmittelbare Anschauung vollendet vorhanden [13. S. 285]. Das impliziert einen Verzicht auf praktische Wirksamkeit, wie es bei anderen Kulturformen der Fall ist. Aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit und Vollständigkeit vermag ein Kunstwerk weder an den Bedingungen des Daseins etwas zu verändern, noch kann es die Realität von etwas beweisen [13. S. 286]. Reine Kunstwerke sind, so lässt sich das formulieren, gegen außerästhetische Kritik und gegen unkünstlerische Angriffe resistent, sie sind, wie sich Cohn ausdrückt, „unangreifbar“ [13. S. 243].40
Andererseits kann der besonders glückliche Fall eintreten, dass ein Kunstwerk aufgrund seiner Unangreifbarkeit dennoch oder gerade zu einer lebendigen Form avancieren und kulturelle, sogar eminente, weltkulturelle Bedeutsamkeit erlangen kann. Das zeigt sich für Cohn beispielsweise an nationalen Epen [13. S. 243]. Sie können zum einen zur kulturellen Identitätsbildung beitragen. Andererseits können sie die räumlichen und zeitlichen Bedingungen oder Grenzen der Kultur, in der sie entstanden und wirksam sind, überschreiten und sich – wenn man Cohns Gedanken prolongiert, ohne ihm Gewalt anzutun – zum Erbe einer gemeinsam geteilten Weltkunst der Menschheit erweitern.41
6. Nach der Darstellung der wichtigsten Punkte der axiologischen Ästhetikbegründung Cohn stellt sich abschließend die Frage, inwiefern seine Ästhetik heute noch von systematischer Relevanz sein kann. Zunächst ist zu sagen, Cohns Ästhetik beinhaltet eine Vielzahl differenzierter und vielschichtiger Ausführungen zur Kunst, zu den Künsten und zur Bestimmung von Kunstwerken. Sie allesamt sind, wie sollte es anders sein, einerseits zeitgebunden.42 Nicht wenige weisen aber über ihre Zeitgebundenheit hinaus. Cohn formuliert systematische Aussagen, die heute noch relevant sind bzw. sein können. Das betrifft, um nur die wichtigsten zu nennen, seine Einsichten in die Selbstständig- bzw. Selbstgenügsamkeit des Ästhetischen, seine Abgrenzung von anderen kulturellen Wertgebieten, die Zurückweisung ästhetischer Nachahmungs- oder Abbildtheorien, seine Auffassung von der Materialität der Kunstwerke sowie die Besonderheit der ästhetischen Kommunikation als „rein intensive“ Mitteilung. Das ist auch dann zu sagen, wenn Cohn besonders bei dem zuletzt Genannten weitere wichtige Implikationen nicht beachtet. Die Aktualität seiner Ästhetik besteht zudem in Cohns Auffassung, dass in der Ästhetik bzw. in der Philosophie der Kunst nicht um Fragen der Wertung und der Bewertung herumzukommen ist. Das gilt auch für Cohns Ansicht, dass sich die mit der Bestimmung und ästhetischen Bewertung von Kunstwerken aufgeworfenen Fragen letztlich nur durch einen Rekurs auf Kant beantworten lassen. Das kann freilich nicht bedeuten, dass die Kantische Lehre nicht modifiziert werden müsste. Einzuwenden ist jedoch, dass Cohns Kritik an Kants Lehre vom ästhetischen Urteil auf einem Missverständnis beruht. Cohn meint, Kant verstehe unter einem ästhetischen Urteil ein Bestimmungsurteil, dessen Konstitution an der Logik orientiert sei. Das ästhetische Urteil ist nach Kants Auffassung als Geschmacksurteil aber kein Bestimmungs-, sondern ein Reflexionsurteil (der ästhetischen Urteilskraft). Ein ästhetisches Urteil ist, wenn man die Terminologie Cohns heranzieht, also auch für Kant ein bewertendes Urteil. Im Unterschied zu Cohn wird bei Kant mit und in einem ästhetischen Reflexionsurteil nicht die Einheit von Ausdruck und Gestaltung (einer ästhetischen Anschauung), sondern das bei einer Kunstbetrachtung evozierte freie Spiel der Einbildung bewertet. Darin unterscheidet sich die Kantische Ästhetik grundlegend von der Cohns.
Kant zufolge kann ein „Geschmacksurteil“ – anders als ein Bestimmungsurteil – für sich zwar überindividuelle Allgemeinheit, aber keine begrifflich-logische, das heißt diskursive, Notwendigkeit beanspruchen. Es kann, wie Kant betont, nur allgemeine Beistimmung „ansinnen“. Auch Cohn ist dieser Auffassung, wie seine Ausführungen zum Forderungscharakter und zur Mitteilungsfunktion des Ästhetischen zeigen. Doch da Cohn das ästhetische Urteil nicht als Reflexionsurteil bestimmt, welches die ästhetische Einbildungskraft zu beurteilen hat, hat das eine weitere nachteilige Konsequenz für seine axiologische Ästhetikbegründung: Cohn versteht die ästhetische Anschauung bzw. das mit ihr implizierte ästhetische Erleben als innerliche Einheit von Ausdruck und Gestaltung. Diese Einheit bzw. ihr Erleben ist für Cohn etwas unmittelbar Erlebbares. Ästhetisches Erleben erfolgt anders als bei Kant reflexionsfrei. Wie aber soll, wenn ästhetisches Erleben reflexionsfreies Erleben ist, eine ästhetische Bewertung, von der Cohn spricht und die er mit seinem Begründungsversuch intendiert, möglich sein können?
Cohn entgeht außerdem, dass es sich bei Kants Lehre vom ästhetischen Urteil, recht verstanden, um den Versuch handelt, ästhetische Fundamentalwerte zu etablieren, die eine ästhetische Bewertung von Kunstwerken bzw. des freien Spiels der Einbildung ermöglichen. Daran ist auch dann festzuhalten, wenn man einräumen muss, dass Kants Lehre vom ästhetischen Urteil nicht frei von Unklarheiten ist, die Missverständnissen Vorschub leisten können.43 Was Cohn selbst betrifft, so kritisiert er aufgrund seiner Auffassung, ästhetische Urteile seien Kant zufolge Bestimmungsurteile, fälschlicherweise – wie Cohn meint – Kants an der Logik orientierten Begründungsversuch.
Ein weiterer Kritikpunkt an Cohn betrifft dessen Versuch, den Inhalt ästhetischer Werte im Rekurs auf den Ausdruck bzw. auf Kunstwerke als Objektivationen inneren Lebens zurückzuführen [13. S. 49]. Cohn setzt Inhalt mit Ausdruck gleich, weshalb er ästhetisches Erleben als ein „Nachleben“ des (gestalteten) Ausdrucks und als ein einfühlendes Hineinversetzen in den Zustand der Kunstschaffenden versteht. Denn Kunstwerke sind letztlich, auch als rein intensive, Äußerungen inneren menschlichen Lebens [13. S. 63]. Das bringt Cohns Bestimmungen in bedenkliche Nähe zu lebensphilosophischen Auffassungen von der Äußerung inneren Lebens in sogenannten Lebensobjektivationen.44 Dabei geht es bei dem Kunstverstehen nicht um das Nachleben von Ausdruck durch einfühlende Identifikation, sondern um das Verstehen das freien Spiels der Einbildung, die durch Kunstwerke vermittelt wird und die sich in ihrer ästhetischen Geltung bemessen lassen muss. Fraglich ist darüber hinaus, ob die von Cohn vorgenommene inhaltliche Bestimmung ästhetischer Werte tragfähig ist. Denn was Cohn zu den Inhalten ästhetischer Werte anführt, sind letztlich wieder formale Charakterisierungen. Das ist nicht verwunderlich, denn nur um formale Charakterisierungen kann es bei der Grundlegung einer allgemeinen axiologischen Ästhetik gehen. Daran ist festzuhalten, auch wenn Cohn versucht, der sogenannten Inhaltsästhetik gerecht zu werden. Es bleibt schließlich kritisch zu fragen, ob Cohn bei allen Vorzügen seiner werttheoretischen Ästhetikbegründung nicht einen zu hohen Tribut zollt, wenn er mit seiner Lehre von den ästhetischen Ausdruckswerten Anleihen bei der Lebensphilosophie macht, um sie mit der kantischen bzw. neukantischen Philosophie zu verbinden.
1 Vgl. [1. S. 367–380, 380–387]. Vgl. [2. S. 333–338]. Rickerts Ausführungen zu seiner Auffassung zu Kunst und Schönheit weisen deutliche Parallelen zu Cohns Ästhetik auf, die Rickert allerdings nicht benennt (vgl. bes. [2. S. 333f.]).
3 Vgl. [6. S. 314–321] sowie dessen posthum erschienene Ästhetik. Vgl. auch [7].
4 Daran scheint auch der unveränderte Nachdruck (12015) der Originalausgabe im Verlag der Wissenschaften wenig geändert zu haben.
5 Cohn wurde in Freiburg (i. Br.) 1947 beerdigt. Er war von 1903-33 Assistent am Psychologischen Laboratorium in Freiburg, zunächst bei den Direktoren Heinrich Rickert und dann Edmund Husserl. Ab 1919 war Cohn Extraordinarius für Pädagogik und Philosophie. 1920 wurde er Mitdirektor des Psychologischen Laboratoriums, das er ab 1928 zusammen mit Martin Heidegger leitete. Während des Rektorats Heideggers wurde Cohn 1933 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. 1938 emigrierte er nach Birmingham, England (vgl. zur Geschichte des Instituts für Psychologie in Freiburg: https://www.psychologie.uni-freiburg.de/institut/geschichte). Cohns akademische Laufbahn in Freiburg gestaltete sich schwierig. Neben Bedenken, die der Philosophie seitens der Psychologie entgegengebracht wurden, sah sich der promovierte Botaniker mit antisemitischen Einstellungen konfrontiert. 1938 wurde er zur Emigration gezwungen, nachdem er anfangs vereinzelt Förderung und Unterstützung erfahren hatte. Cohn starb in Birmingham kurz vor der geplanten Heimkehr nach Freiburg (vgl. ebd. 20f.). Vgl. auch [8]. Vgl. zur Biographie ebenfalls [9. S. 1–4].
6 Heideggers Brief Über den Humanismus, 1947, fand gleich nach seiner Veröffentlichung große Beachtung.
7 Exemplarische seien genannt [10. S. 159–176] sowie [11. S. 269–357].
8 So urteilt W. Flach: „Gewiß hat J. Cohns Denken sehr viel weniger gewirkt als dasjenige des nur wenige Jahre älteren Heinrich Rickert. Doch ist es deswegen von nicht geringerem Rang.“ [12. S. 57].
9 Das sollte im Übrigen auch für den persönlich-individuellen Geschmack gelten [13. S. 13].
10 Cohn erkennt die Dreiteilung der menschlichen Kultur in die Wertgebiete der Erkenntnis, der Ethik und der Ästhetik, wie sie von Kant in seinen drei Kritiken vorgenommen und von den ihm darin folgenden Neukantianern als kanonisch angesehen wurde, an. Vgl. [1. S. 255]; vgl. Vgl. Cohen H.: Kants Theorie der Erfahrung, 1871, Kants Begründung der Ethik, 1877, Kants Begründung der Aesthetik, 1889 sowie System der Philosophie: Logik der reinen Erkenntnis, 1902, Ethik des reinen Willens, 1904. Aesthetik des reinen Gefühls, 1912. Wie sich im Laufe der Entwicklung des Neukantianismus die Bindung an die Vorgabe der drei kantischen Kritiken löst, zeigt sich besonders an Cassirers Werk. Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen, 1923–1929, und weiteren Schriften versucht er, das Kulturgebiet durch Mythos, Religion, Sprache, Geschichte und Technik zu erweitern. Vgl. [14] sowie ders. [15. S. 167–183].
11 Bei dieser Unterscheidung steht Cohn in der Tradition H. Lotzes. Auch der spätere Südwestdeutsche Neukantianismus, sowie er u.a. von Rickert vertreten wurde, weist Berührungspunkte auf. Vgl. [2. S. 116].
12 Kants Auffassung zufolge ist schöne Kunst die Kunst des Genies. Vgl. Kritik der Urteilskraft (= KdU), § 48.
13 Ästhetische Anschauungen können durchaus fiktionale Qualität haben. Bei einer unmittelbaren ästhetischen Anschauung kann es sich um ein Fantasiegebilde, um eine bloß imaginierte Anschauung, handeln [13. S. 18f].
14 Das, was erscheint, ist etwas Besonderes, aber nicht Allgemeines. Im Unterschied zum Allgemeinen bzw. zu Gattungsbegriffen lässt sich – wobei Cohn sich eine Auffassung Kants zu eigen macht (vgl. KdU, § 8) – nur Besonderes ästhetisch beurteilen: Eine „Rose als Gattung ist nicht schön, sondern nur jede einzelne Rose als einzelne“ [13. S. 18].
15 So kann beispielsweise ein konkret-besonderer Baum von einem Holzhändler, einem Wanderer, einer Botanikerin, einer Natur- oder Landschaftsmalerin unterschiedlich angeschaut werden [13. S. 21].
16 Cohn differenziert nicht mit der nötigen Schärfe zwischen (theoretischer bzw. wissenschaftlicher) Erkenntnis und Logik.
17 Ein Kunstwerk ist, in kantischer Formulierung, Gegenstand interessenlosen Wohlgefallens. Cohn wählt eine andere Begrifflichkeit. An einem Gegenstand Interesse haben, bedeutet für Kant nämlich, an dessen Existenz interessiert zu sein. Vgl. Kants Beispiel von der Schönheit eines Palastes, KdU, § 2, das Cohn in diesem Zusammenhang anführt [13. S. 30].
18 Beim Kunstschaffen kann es, anders als in der theoretischen Erkenntnis, keinen Fortschritt geben. Was es geben kann, ist die Entdeckung und Erprobung neuer Ausdrucksmittel oder neuer künstlerischer Materialen [13. S. 28].
19 Kant habe trotz dieses Mangels den Fehler Baumgartners vermieden, das Schöne als ein undeutlich erkanntes Wahres zu bestimmen [13. S. 42].
20 Was das besagen soll, bleibt unklar. Es ist deshalb zutreffend, wenn Flach W. in Grundzüge der Ideenlehre meint, das unmittelbare Erleben, die immanente Geltungsgesetzlichkeit der Anschauung sei von Cohn „völlig reflexionsfrei“ konzipiert [16. S. 132] (Anm. 217). Vgl. auch Punkt 6 dieser Untersuchung.
21 Das gilt beispielsweise für die japanische und chinesische Kunst [13. S. 45].
22 Aus dem gleichen Grund kritisiert Cohn Kants These vom Schönen als Symbol der Sittlichkeit sowie Schillers Auffassung des Schönen als Symbol der sittlichen Freiheit [13. S. 156, 256].
23 Mit dem Ausdruck der Entzückung bezieht sich Cohn auf u.a. K.W.F. Solger und A. Schopenhauer [13. S. 64] (Anm. 2).
24 Das, was Cohn im Zusammenhang mit der theoretischen Erkenntnis für das Gegebene als Kontingentes sagt, lässt sich m.E. auf das Ästhetische übertragen [13. S. 236].
25 Vgl. Cohns explizite Zurückweisung ästhetischer Nachahmungstheorien [13. S. 104–114].
26 Das Schöne bringt auch, anders als der platonisierende-idealistische Begriffsrealismus Hegels behauptet, keine Idee zum Erscheinen [13. S. 251ff.]. Das Schöne lässt sich nicht vor dem Verstande rechtfertigen, indem man es zu einer Erkenntnis macht [13. S. 253].
27 Deshalb entspricht einem rein intensiven ästhetischen Wert als Korrelat das Kunstwerk als isoliertes Objekt [13. S. 35].
28 Das zeigt sich für Cohn beispielsweise bei der Form und Farbe eines Gemäldes [13. S. 126].
29 Die Einsicht von der innerlichen Einheit von Ausdruck und Gestaltung hält Cohn für eine der wichtigsten Einsichten in der Geschichte der neueren Ästhetik. Das zeige sich an so unterschiedlichen Ästhetiken wie denen u.a. Kants, Hegels, Schellings und Vischers [13. S. 155–165].
30 Es wurde schon gesagt, dass Cohn [13. S. 8] dem Kantischen Diktum folgt, wonach schöne Kunst die Kunst des Genies ist (vgl. KdU § 46).
31 Für die Subtilität der Cohnschen Ästhetik ist es u.a. bezeichnend, dass der Wert eines Kunstwerks nicht in allen Fällen dogmatisch-eng nach der Einheit von Ausdruck und Gestaltung beurteilt werden darf [13. S. 154 f.]. So kann ästhetisch Unvollständiges – beispielsweise eine künstlerische Skizze – von höchstem ästhetischem Reiz sein. Das Unvollständige verdeutlicht neben dem Erreichten auch die Größe des künstlerisch Gewollten. Diese Beurteilung, die auf die Bedeutung eines Werkes für das „Leben“ der Kunstbetrachtenden zielt, impliziert allerdings ein „transgredientes“, nicht rein intensives, Element. Cohn spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Wertungsart. Auch wenn man bei dem Unvollendet-Skizzenhaften die Größe des künstlerischen Wollens bewundern mag, so ist es nicht das Wollen, sondern das Geschaffene, das Werk, worauf ankommt.
32 Die ästhetischen Werte der Klarheit und Deutlichkeit dürfen deshalb nicht mit den gleichlautenden Begriffen logischer bzw. rationaler Klarheit oder Deutlichkeit verwechselt werden [13. S. 88].
33 Cohn nennt hierbei u.a. die gelungene Exposition eines Dramas [13. S. 88f.].
34 Cohn spricht in diesem Zusammenhang, in dem es um die Verwirklichung von ästhetischen Werten geht, von „Normen“
35 Cohn bezieht sich dabei auf die Konkretionsstufen des Schönen, wie sie von F. Th. Vischer und E. v. Hartmann entwickelt wurden [13. S. 171].
36 Cohn ist sich im Klaren darüber, dass seine Anleihe bei der Psychologie nur den Status eines Behelfs haben kann [13. S. 185].
37 Michelangelos Pietá beispielsweise sei (rein) schön und erhaben zugleich [13. S. 187].
38 Das zeigt sich an unterschiedlichen Weisen des Sprachgebrauchs, so wie sie im Alltag, in den Wissenschaften und in der Poesie verwendet werden. Nur in der Poesie ist die sprachliche Mitteilung um ihrer selbst willen da [13. S. 231].
39 Das zeigt sich für Cohn besonders dann, wenn die ökonomischen, sozialen, rechtlichen und wissenschaftlichen Zustände komplexer werden [13. S. 241].
40 Das ist eine These, die Adorno unter anderen Vorzeichen vertritt: Aufgrund ihrer Autonomie entziehen sich genuine bzw. authentische Kunstwerke der Ökonomie des Marktes und ihres kulturindustriellen Verschleißes (vgl. [17. S. 109–135, 128]). Im Übrigen ist Adorno der Ansicht, ohne Werte lasse sich ästhetisch nichts verstehen. Vgl. [18. S. 392].
41 Cohn spricht in diesem Zusammenhang explizit allerdings nur den Herderschen Gedanken von einer „Weltliteratur“ an [13. S. 246].
42 Das gilt u.a. für Cohns Lehre von den wichtigsten Arten des Ästhetischen (= das Erhabene, Tragische, Komische).
43 Das zeigt die Geschichte der nachkantischen Ästhetik in vielen Facetten. Beispielshaft seien zwei unterschiedliche Positionen genannt: Vgl. [6. S. 69ff]. und [19. S. 22ff].
44 Bei Dilthey lässt sich von solchen Lebensobjektivationen sprechen. Vgl. zur Darstellung und Kritik: [20. S. 20–40].
About the authors
Thomas Göller
Karlsruhe Institute of Technology
Author for correspondence.
Email: tho.goeller@arcor.de
Prof. Dr., Department of Philosophy 12 Kaiserstraße, 76131 Karlsruhe, Germany
References
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