Natorp, Husserl and Pure Logic
- Authors: Ferrari M.1
-
Affiliations:
- University of Turin
- Issue: Vol 29, No 1 (2025): THE PHILOSOPHY OF PAUL NATORP
- Pages: 133-147
- Section: THE PHILOSOPHY OF PAUL NATORP
- URL: https://journals.rudn.ru/philosophy/article/view/43535
- DOI: https://doi.org/10.22363/2313-2302-2025-29-1-133-147
- EDN: https://elibrary.ru/FKWNER
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Abstract
The systematic confrontation between neo-Kantianism and phenomenology was strongly influenced by the dialogue between Natorp and Husserl, which largely dealt with the question of the relationship between subjectivity and objectivity, between the “bottom up” description promoted by the phenomenological method and the “top down” construction that characterizes instead the transcendental method. At the root of this passionate philosophical dispute, however, there is also another issue that is not always adequately considered: the nature of pure logic in the context of the rejection of psychologism. My paper focuses on this aspect and, in particular, examines Natorp’s anti-psychologistic conception of knowledge and his extensive discussion of Husserl’s Prolegomena to Pure Logic .
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„Ein reiningendes Gewitter“
In seinem Vortrag zum Strukturalismus in der modernen Linguistik (Februar 1945) erinnert Ernst Cassirer an die Wirkung, die das Erscheinen von Edmund Husserls Logischen Untersuchungen und insbesondere des ersten Bandes, nämlich der Prolegomena zur reinen Logik, ausgelöst hatte: „Wie [Husserl] hervorhob, ist die logische Wahrheit eine formale, keine materiale Wahrheit. Sie hängt nicht von besonderen empirischen Bedingungen ab, sie ist universel und notwendig. Der Prozeß der empirischen Verallgemeinerung kann uns niemals zur Einsicht in die reinen Denkformen führen. Eine induktive Logik im Sinne von John Stuart Mill wurde von Husserl zu einem hölzeren Eisen erklärt – einen Widerspruch in sich selbst. In der philosophischen Welt hatte Husserls Werk die Wirkung eines reiningenden Gewitters. Es vertrieb die Wolken und klarte die gesamte geistige Atmosphäre“ [1. S. 322].
Indem Cassirer fast ein halbes Jahrhundert später auf den von Husserl ausgelösten „reiningendes Gewitter“ zurückkommt, bringt er erneut eine Überzeugung zum Ausdruck, die innerhalb des deutschen Neukantianismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet war. Cassirer selbst hatte übrigens in einem Brief an Husserl vom 10. April 1925 erklärt, dass er den Begründer der Phänomenologie nicht nur als „de[n] Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie in Deutschland“ von Anfang an ansah, sondern auch als den Förderer einer philosophischen Richtung, die den Aufgaben der Transzendentalphilosophie entsprach, ja (wie Husserl wenige Tage zuvor in einem Brief an Cassirer gesagt hatte) einer „Wissenschaft vom Transzendentalen“: „Ich habe seit dem Erscheinen des ersten Bandes der ‚Logischen Untersuchungen’ immer die Überzeugung vertreten, daß zwischen den Aufgaben, die die Phänomenologie sich steckt, und den Grundanschaungen der kritischen Philosophie eine Gemeinsamkeit besteht: handelt es sich doch für beide um das, was Sie in Ihrem Brief „die radikal durchgeführte und ins Unendliche durchzuführende Wissenschaft vom Transzendentalen“‘ nennen“ [2. S. 6].
Auf dem doppelten Front des Psychologismus-Streites und der Idee der Philosophie als „strenge Wissenschaft“ – oder, anders ausgedruckt, in Hinsicht auf einer „Wissenschaft vom Transzendentalen“ – meinten Cassirer und Husserl, bis zu einem gewissen Grad dieselbe philosophische Sprache sprechen zu können. In Zentrum dieser Übereinstimmung zwischen Husserl und dem Neukantianismus liegt die Polemik gegen den Psychologismus, der Husserl zwar seine aufürlichste und endgültge Form gegeben hatte, die aber in der Tat bereits von einigen der neukantianischen Philosophien am Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet und teilweise auch durchgeführt worden war [3]. Nicht umsonst hatte Paul Natorp in einer Passage seines berühmten Vortrags über Kant und die Marburger Schule von 1912 Husserls Prolegomena mit großer Genugtuung begrüßt, zugleich aber – auf die systematische Absicht des Marburger Neukantianismus hinweisend, den objektiven Charakter der Erkenntnisformen und des Wissens von jeder psychologischen Voraussetzung zu lösen – mit polemischem Ton behauptet, dass gerade deshalb aus Husserls Werk „gar nicht viel erst zu lernen übrig“ sei [4. S. 198].
Mehr als zehn Jahren vorher, hatte Natorp in seiner Besprechung der Prolegomena schon betont, dass eine der Hauptbeschränkungen von Husserls Kritik des logischen Psychologismus darin bestehe, dass er nicht verstanden habe, was „für seine Absichten förderliche Verständnis Kants“ besonderds zu beachten sei. Husserl hat sich nämlich auf Kants „reine Logik“ bezogen, insofern sie sich aus den von Jäsche veröffentlichten Vorlesungen über Logik herauslesen liess, dabei aber völlig außer Acht übersah, dass „die entscheidende Leistung Kants für die logik doch wohl in der ‚transzendentalen’ Logik zu suchen ist“ [5. S. 281; 6. S. 217–218]. Hätte Husserl – so fügt Natorp noch hinzu – dies erkannt, wäre es ihm nicht schwergefallen, zu verstehen, wie Kant das im Schlussteil der Prolegomena formulierte Ideal der reinen Logik, d.h. das Ziel einer Untersuchung der Grundprinzipien der Wissenschaften und der Möglichkeitsbedingungen der „tatsächlcih gegebene Wissenschaft“, bereits „in aller Reinheit“ umrissen hatte [5. S. 281].
Eine der entscheidenden Fragen in der philosophischen Diskussion zwischen Husserl und Natorp betrafft genau den Status der Logik, auch wenn man gewöhnlich davon ausgeht, dass ihre primäre Bedeutung vielmehr zur Auseinandersetzung in Bezug auf den Begriff der Subjektivität, zur Erschliessung des Psychischen und zum kontroverse Verhältnis zwischen der Husserlschen Methode der phänomenologischen Analyse und der Natorpschen Methode der „Rekonstruktion“ zukommt (bahnbrechend ist hier [7. S. 326–373]). Wenn auch es schwer zu leugnen wäre, dass auf diesem letzten Gebiet ein entscheidendes Spiel für die gesamte Debatte zwischen Neukantianismus und Phänomenologie gespielt wird, so scheint es jedoch, dass insbondere der Begriff der reinen Logik bei Husserl und bei Natorp bedeutungvolle Aspekte dieser Disputation klären kann.
Beschränken wir uns vorerst auf den status questionis, wie er sich 1900–1901 profiliert, d.h. zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Husserls Prolegomena und der Besprechung von Natorp, so ist es angebracht, zunächst aufzuklären, worin für Husserl die „reine Logik“ besteht und welcher ihr philosophischer Hintergrund ist. Natürlich kann das Ziel der reinen Logik für Husserl nur im Rahmen der scharfen Widerlegung des logischen Psychologismus in all seinen Formen verstanden werden, der ein großer Teil der in den Prolegomena durchgeführten Analysen gewidmet ist (siehe dazu [8. S. 73–158]. Die Ergebnisse dieser Polemik sind im Übrigen bekannt: Für Husserl muss die echte theoretische Grundlage der Logik auf derjenigen rein theoretischen Ebene gesucht werden, die für die normativen Disziplinen ebenso grundlegend ist wie für die als „Kunst des Denkens“ verstandene Logik. Diese Ebene ist eigentlich was Husserl ihren „logischen Ort “ nennt [6. S. 61]. Andererseits ist die rein theoretische Gültigkeit der logischen Gesetze niemals auf die empirische oder anthropologische Grudnlage der psychologischen Untersuchung reduzierbar [6. S. 142, 174–175]. In der reinen Logik wie in der Mathematik geht es um ideale „Vernunftwahrheiten“, d.h. um ideale Einheiten und ideale Besonderheiten, die außerhalb der Zeit bestehen, als Einheiten, die unabhängig von den psychischen Akten sind, in denen sie realisiert werden. Der Grundfehler des gesamten Psychologismus besteht gerade darin, dass er diesen „wesentlichen, schlechthin unüberbrückbaren Unterschied“ zwischen Idealenwissenschaften (wie der Logik und der Mathematik) und realen oder faktischen Wissenschaften (wie der Psychologie) missversteht [6. S. 181].
Ohne weiter auf Husserls detaillierter Kritik am Psychologismus einzugehen, ist es notwendig, unsere Aufmerksamkeit genau auf das Problem des „logischen Orts“ zu richten: nämlich auf die Anforderungen, die eine theoretische Wissenschaft erfüllen muss, um eine solche zu sein, und auf die Bedeutungen und Objekte, die sie konstituieren. Es geht also um die eigentliche Konfiguration der reinen Logik als Grundlage der theoretischen Wissenschaften, als „Wissenschaftslehre“ (im Sinne Bernard Bolzanos), die jedoch die Analyse der mentalen Akte der erkennenden Subjekte einschließt. Der Bereich einer gegebenen Wissenschaft (hier ist in erster Linie die Mathematik gemeint) ist für Husserl eine objektiv geschlossene Einheit, die einen Teil des Reiches der Wahrheit darstellt und die nicht aufgrund unseres Willens abgegrenzt ist. Die Aufgabe der reinen Logik besteht gerade darin, sich der systematischen Einheit, die wir „Theorie“ nennen, zuzuwenden, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen sie eine solche ist: „Die reine Logik ist in allgemenster Weise die idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt“ [6. S. 256]. Aus diesem Grund zögert Husserl nicht, sich selbst als „Idealist“ zu bezeichnen, d.h. er vesteht sich als Vertreter einer Erkenntnistheorie, die die Rolle des Ideals nicht psychologisch uminterpretiert, sondern es als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis im Allgemeinen anerkennt [9. S. 112]. In der Tat erweist sich diese Art von „Idealismus“ als verwandt zu einer Konzeption der Philosophie, die mit dem Marburger Neukantianismus in Einklang zu sein scheint. Denn für Husserl geht es darum – und trotz seines Vorwurfs an Kant und die Neukantianer, Gefangene eines „transzendentalen Psychologismus“ zu bleiben, der sich auf den Verstand und die Vernunft als „Seelenvermögen“ stützt – dem Philosophen die Aufgabe „einer fortlaufenden ‚erkenntinskritischen’ und ausschließlich dem Philosophen zufallenden Reflexion“ über die Wissenschaften zuzuschreiben und damit das zu verwirklichen, was Husserl selbst als eine wichtige „Nähe" zu Kant definiert [6. S. 130–131, 216–218, 255].
Die Identifizierung der Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie im Allgemeinen – diese „absolut notwendige Verallgemeinerung“ der kantischen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung – impliziert also den Rückgriff auf die „idealen Bedingungen“, die der theoretischen Erkenntnis zugrunde liegen. Für Husserl handelt es sich, anders gesagt, um „apriorische Erkenntnisbedingungen, welche, abgesondert von aller Beziehung zum denkenden Subiekt und zur Idee der Subiektivität überhaupt, betrachtet und erforscht werden können“ [6. S. 240]. Die reine Logik isoliert also die „sämtlichen primitiven Begriffe“, die der Möglichkeit der Einheit der Theorie zugrunde liegen, so dass ihre Aufgabe – als „Theorie der Theorien“, als „Wissenschaft der Wissenschaften“ – darin besteht, ein Zusammenhang von „reinen Kategorien“ aufzustellen, und somit die Gesetze und die Theorien zu untersuchen, die in diesen Kategorien ihre Grundlage finden, sodass eine Theorie der möglichen Formen der Theorie (was Husserl auch eine reine Mannigfaltigkeitslehre nennt) erst ermöglicht wird. Insbesondere was die Kategorien betrifft, unterscheidet Husserl bereits in den Prolegomena zwischen den Bedeutungskategorien (Wahrheit, Satz, Begriff usw.), zu denen auch die der deduktiven Einheit der Sätze zugrunde liegenden elementaren Verknüpfungsformen (konjunktive, disjunktive, hypothetische Formen usw.) gehören, und den Formalkategorien, die vielmehr formale und apriorische Eigenschaften von Gegenstände überhaupt betreffen (wie z.B. die Kategorien von Objekt, Zustand, Einheit, Pluralität, Anzahl, Relation, Verbindung usw.) [6. S. 244–246]. Dieser letzte Problemgebiet hat somit mit der formalen Ontologie zu tun, die jedoch von Seite Natorps kaum berücksichtihgt wird – und pour cause, denn Husserl meint hier etwas ganz anderes von einer transzendentalen Kategorienlehre. Doch das Problem des Formalen bildet, wie wir noch sehen werden, ein sehr wichtiges Problem im philosophischen Streit zwischen Neukantianismus und Phänomenologie.
Paul Natorp, ein „bedeeuteter Neukantianer“
In seiner in 1906/1907 gehaltenen Vorlesung zur Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie bezieht sich Husserl auf Natorp mit folgenden Worter: „Selbst diejenigen Logiker, die den Spuren Kants und Herbarts folgend die Logik als eine apriorische und von der Psychologie unabhängige Disziplin ansehen, [...] erheben sich nicht zu der Idee einer apriorischen und theoretischen Wissenschafstlehre in unserem bisherigen Sinn einer Bedeutungsund Gegenstandslehre, und somit erkannten sie auch nicht die Einheit von reiner Mathematik und reiner Logik. Nur einen bedeutenden Neukantinaer muß ich in gewisser Weise ausnehmen: Die Idee einer Einheit von Logik und Mathematik vertritt seit einigen Jahren und unabhängig von mir P. Natop, wobei freilich die Art, wie er diese Überzeugung vertritt und wie er die Idee der Logik bestimmt, wesentlich von der meinen abweicht“ [10. S. 57]. Zweifellos ist Husserl der erste gewesen, der insbesondere die Bedeutung von Natorps Aufsatz von 1887 Über objektive und subjektive Begründung der Erkenntnis anerkannt hat, obwohl – wie Husserl selbst hervorhebt – „wesentliche“ Unterschiede zwischen ihm und Natorp bestehen, die von erheblicher Tragweite für beide bleiben werden.
Natorps systematischer Beitrag kann gleichsam als eine Art Manifest des neukantianischen Anti-Psychologismus gelesen werden [11]. Dabei führt Natorp zunächst eine entschiedene Polemik (nicht unähnlich der von Hermann Cohen) gegen eine psychologistische und subjektivistische Interpretation der Grundlagen des Wissens. Die Aufgabe der Logik (hier als transzendentale Logik gemeint) ist es, die Begründung der Wahrheit und Objektivität zu liefern; diese Aufgabe würde aber völlig vereitelt, wenn sie von einer bestimmten Wissenschaft wie der Psychologie abhängen würde: „Eine Wissenschaft, welche, dem Namen und Anspruch nach, von Erkenntnise überhaupt und deren Gesetzt handelt, darf nicht in ihrer Begründung von irgendeiner besonderen wissenschaftlichen Erkenntnis (die ja ihren Gesetze gemäss sie wahr gelten dürfte) abhängen, sie muss vielmehr ihnen allen zu Grunde liegen. Handelt Logik von dem Kriterium der Wahrheit, von dem, was allgemein, weil auf gesetzmässige Art, die Wahrheit einer Erkenntnis bestimmt, so darf doch die Gültigkeit dieses Kriteriums nicht abhängen von einner Erkenntnis, die nur nach diesem Kriterium als wahr zu behaupten wäre. Entweder also, es gibt keine Logik, oder sie muss mit dem Anspruch auftreten, ganz auf eigenem Grunde zu bauen, nicht von irgendeiner andern Wissenschaft ihre Fundamente borgen zu sollen“ [12. S. 264–265]. Nun besteht die wissenschaftliche Erkenntnis darin, die Phänomene auf die Einheit des Gesetzes zu reduzieren, wodurch der Gegenstand jede realistische Konnotation verliert und sich vielmehr als das x der „Gleichung“ der Erkenntnis ausbildet, als das „Problem“ und die „Aufgabe“, die auf der Grundlage der Bedingungen der Konstitution der Objektivität selbst gelöst werden müssen [12. S. 258–260]. Das Phänomenische kann jedoch nicht mit der subjektiven, psychologischen Vorstellung oder der bloßen sinnlichen Erscheinung identifiziert werden. Das Problem besteht vielmehr darin, das Phänomenische von dieser Einschränkung zu befreien und es zum Gesetz zu erheben, d.h. „zum Standpunkte des Allgemeinegültigen“, zur Einheit der „gegendtändlichen Vorstellung“ [12. S. 273]. Von hier aus stellt Natorp – in gewisser Weise eine bahnbrechende Argumentation gegen den „Mythos des Gegebenen“ formulierend – die positivistische Auffassung von Wissen in Frage, die den Erkenntnisprozess von einem konkreten Gegebenen, von einem sinnlichen „hier und jetzt“ ausgehen lassen: Jede Bestimmung ist in Wirklichkeit nur möglich, wenn man „aus dem Standpunkt des Allgemeinen“ ausgeht, von der Bestimmung der Quantität, der Qualität und der Beziehungen, die ein unimittelbares Erlebte in Bezug auf ein anderes bestimmen [12. S. 280–281] (sihe dazu [13. S. 13–27]). Aber die Begründung des phänomenischen Niveau auf der Grundlage der Gesetzmäßigkeit der Erfahrung erfordert die Erschliessung der Grundlage des Erkennens; und hier muss nach Natorps Meinung festgestellt werden, dass Kant selbst das Missverständnis begünstigt habe, die objektiven Bedingungen des menschlichen Wissens mit der Konstitution des erkennenden Subjekts in eins zu setzen. Kant begeht damit das Irrtum jedes Psychologismus – nämlich die objektiven Beziehungen auf subjektiven Grundstrukturen zu nivellieren [12. S. 261–262]. Indem Natorp die „Korrelation“ zwischen Materie und Form der Erkenntnis und damit zwischen den Phänomenen und der idealen Einheit des Gesetzes, in dem ihre veränderliche Vielfalt festgelegt ist, geltend macht, wird daher das Verhältnis zwischen Phänomenischem und Objektivem gleichsam umgekehrt. Nicht das erste begründet das letztere, genauso wie die Subjektivität nicht die Objektivität begründen kann. Was hingegen für den Positivismus die unmittelbare Gegebenheit ist, was für die Psychologie das Psychische als unmittelbare Gegebenheit ist, wird stattdessen zum Problem, und zwar das Ziel eines Prozesses, der von der Objektivität zum Subjektiven zurückführt. Und genau ausgehend von der Objektivierung „rekonstruieren wir, soweit es möglich ist, die Stufe der urprunglichen Subjektivität, welche anders, als auf diesem rekonstruktiven Wege, von der bereits vollzogenen objectiven Construction aus, überhaupt mit keiner Erkennntis zu erreichen wäre“ [12. S. 283].
Mit dieser letzten Formulierung legte Natorp die Voraussetzungen für die Ausarbeitung der Psychologie „nach kritischer Methode“, die im folgenden Jahr im Mittelpunkt seiner Einleitung in die Psychologie stehen sollte [14]. Hier sind es aber angemessen noch einige Bemerkugen über den Aufsatz von 1887 und die Polemik, die Natorp gegenüber dem Psychologismus herausarbeitet. Sicherlich ist Natorp nicht der einzige Neukantianer, der den objektiven Status der Logik als Erkenntniskritik beansprucht; und dennoch nimmt Natorp eine besonders bedeutende, wenn auch zu sehr vernachlässigte Position ein in dem Streit über den Psychologismus, der einen entscheidenden Wendepunkt für die deutsche Philosophie um die Jahrhundertwende kennzeichnet (vgl. [15; 16], verblüffend ist es, dass sowohl [16] als auch [3] den Aufsatz Natorps sogar nicht erwähnen). Im Übrigen hat Husserl selbst dem Aufsatz von Natorp (mit seinen “schönen Ausführungen”) eine anregende Wirkung für die Ausrichtung der Polemik gegen das „Zirkel“ des Psychologismus anerkannt und ihn in den Prolegomena zugunsten der These zustimmend erwähnt, dass jeder Versuch, eine Vermittlung zwischen der idealen Welt der Mathematik und der psychologischen Sphäre zu finden, nur zu einer metabasis eis allò génos führt [6. S. 69, 172] (und Anm.*)[1].
Die Besonderheit von Natorps Position in der Debatte über Psychologismus und Antipsychologismus liegt vor allem in seiner Überzeugung, dass die Ablehnung einer psychologischen Begründung der Erkenntnis nicht die Marginalisierung der Psychologie aus der transzendentalen Reflexion impliziert, sondern im Gegenteil verlangt, dass die transzendentale Reflexion die Grenzen der psychologischen Untersuchung bestimmt und und sie von einem naturalistischen Ansatz befreit, der die Psychologie auf eine kausale-erklärende Tatsachenwissenschaft reduzieren will. Auf diese Weise reiht sich Natorp in den Horizont jener philosophischen Psychologie ein, die darauf abzielt, die Ansprüche einer „Naturalisierung des Bewusstseins“ zu entkräften, die von Brentano bis Husserl einen der großen problematischen Knotenpunkte der Diskussion über die „Wissenschaft der Seele“ in der Philosophie und Psychologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bildet; und dies trotz der Tatsache, dass Natorp sich in vielerlei Hinsicht von Brentanos und Husserls Psychologie-Konzeption sowie von Diltheys „beschreibenden Psychologie“ abhebt (oder sehr stark unterscheidet). Andererseits unterscheidet sich Natorp in der Anerkennung der Notwendigkeit einer „kritischen“ Fundierung der Psychologie nicht nur von anderen neukantianischen Philosophen, die ebenfalls den Antipsychologismus mit ihm teilten, sondern distanzierte sich auch von Cohen: Wie [17] in seiner Rede in Berlin wenige Wochen nach Cohens Tod schrieb, hatte Cohen in genau dem Buch, das die Marburger Konzeption von Kant vollständig definierte, nämlich der zweiten Ausgabe von Kants Theorie der Erfahrung, weder eine angemessene Anerkennung noch eine genaue Einordnung der Psychologie innerhalb der transzendentalen Kritik gefunden [17. S. 19]. Genau um diese Lücke zu schließen und die notwendige Vervollständigung einer „kritischen Theorie der Erfahrung“ in die Tat umzusetzen, gibt [14] die Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode heraus, in der das Thema der „subjektiven Grundlage“ nach dem im Aufsatz von 1887 skizzierten Entwurf erstmals systematisiert wird.
Was haben wir von Husserl zu lernen? Natorps Besprechung der “Prolegomena zur reinen Logik”
In einem Brief an Albert Görland vom 27. August 1900 nimmt Natorp gegenüber der Veröffentlichung von Husserls Prolegomena zur reinen Logik stellung und bemerkt, dass es sich um ein sicherlich verdienstvolles Werk handele, das sich „unseren” Standpunkt annähere, auch wenn es sich in Wirklichkeit um eine systematische Frage angeht, die in Marburg inzwischen eine „abgethane Sache“ geworden war [18. S. 261]. Wie bereits erwähnt, hatte Natorp mehrmals die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass in Marburg Husserls Kampf gegen den Psychologismus nur positiv begrüßt werden könne, obwohl Natorp sich bewusst war, dass einen solchen Kampf bereits von denen siegreich geführt wurde, die sich auf die Spuren Cohens begeben hatten. Aber eine solche Anerkennung fügte sich in einen weiteren Rahmen ein, in dem das Husserlsche Projekt der „reinen Logik“ von Natorp als eine verpasste Gelegenheit gedeutet wird, einen tieferen Dialog mit Kant und mit der grundlegenden Bedeutung seiner transzendentalen Logik zu führen. Und im Übrigen besteht ein Großteil von Natorps Auseinandersetzung mit Husserl genau darin, dass Husserl nicht erkannt hatte, inwieweit Kant und der Neukantianismus selbst, zumindest in der Natorpschen Version, nicht Gegner, sondern fruchtbarer Inspirator der phänomenologischen Philosophie sein koennten.
Wie schon gesagt, betont Natorp in der Bescprechung von Husserls Prolegomena, die 1901 in den „Kant-Studien“ erschien, dass der Hauptmangel von Husserls Kritik des logischen Psychologismus in dem fehlenden „Verständnis“ dessen bestehe, was in der Philosophie Kants „seinen Absichten am meisten hätte nützen können“. Natorp vertritt die Meinung, dass die Auseinandersetzung Husserl mit dem Psychologismus nicht nur mit dem Antipsychologismus des Marburger Neukantianismus offensichtlich konvergiert, sondern sogar als ein Punkt betrachtet werden kann, an dem die „reine Logik“ den Weg gefunden hat, der von dem, was „die Kantische Schule heute als […] Erkenntniskritik bezeichent“, vollkommen geebnet wurde [5. S. 270]. Diese Einschätzung stellt einen wichtigen Aspekt dar, auf den auch ein maßgeblicher Interpret der zeitgenössischen Debatte über den Status der Logik, nämlich der junge Martin Heidegger, aufmerksam mschte [19. S. 19]. Der Punkt, der hier jedoch hervorgehoben werden soll, ist die Schwierigkeit, sich gegenseitig zu verstehen, die – in dieser speziellen Frage – aus dem Vergleich zwischen Husserl und Natorp zu entstehen scheint. Zweifellos ist Husserl dazu bereit, die große Bedeutung der Thesen zu erkennen, die Natorp seit seinem Aufsatz von 1887 über die Unterscheidung zwischen der objektiven Ebene der logischen Bestimmung des Objekts und der psychologischen Ebene der Subjektivität entwickelt hat; und diese positive Einschätzung wird im Übrigen auch später bekräftigt, was eine prinzipielle Konvergenz bestätigt [20. S. 113] (vgl. auch [21. S. 194–195]). Voraussetzung für diese Annäherung sind jedoch zwei unterschiedliche Prämissen: Für Husserl impliziert eine solche Perspektive die Abkehr vom (vermeinten) Psychologismus Kants, der seiner Meinung nach auch bei den Neukantianern noch fortbesteht; für Natorp hingegen (wie auch für Cohen) ist dies zwar ein Fortschritt gegenüber Kant, aber nicht so ein Fortschritt, dass dadurch die gesamte Tradition der kritischen Philosophie in Abrede gestellt wird. Doch all dies scheint nicht auszureichen, um Husserl von der Vereinbarkeit des radikalen Antipsychologismus – auf dem die „reine Logik“ notwendigerweise beruhen muss – mit dem Erbe der kantischen Analyse der Vernunft zu überzeugen. In der VI. Philosophischen Untersuchung wird Husserl nicht zufällig im Einklang mit der antipsychologischen Annahme der Prolegomena bekräftigen, dass die Identifizierung des Verstandes mit der „Fähigkeit zu kategorialen Akten“ auf der Ebene der psychischen Organisation oder des Bewusstseins im Allgemeinen eine Herabstufung dessen bedeuten würde, was stattdessen zur “Essenz” intellektueller Akten gehört: Es würde bedeuten, „das echte logische A priori“ misszuverstehen und in jener besonderen Form von transzendentalem Psychologismus hängen zu bleiben, die die verhängnisvolle Grenze der Kantianischen Lehre darstellt [9. S. 726–727]. Im Übrigen war die bereits in den Prolegomena eingenommene Position gegenüber Kant eindeutig von der Feststellung geleitet, dass es in der Erkenntnistheorie Kants zwar Aspekte gebe, die dazu neigen, diesen “Psychologismus der Seelenvermögen” als Erkenntnisquellen zu überschreiten, jedoch noch nicht in einem so entscheidenden Ausmaß, dass Kant und „ein großer Teil der Neukantianer“ (dieser letzte Ausdruck wird in der zweiten Ausgabe durch den nuancierteren Ausdruck „kantianisierenden Philosophen“ ersetzt) von den Fehlern einer psychologistischen Erkenntnistheorie befreien. Mit anderen Worten, für Husserl ist der Kantianismus mit einer „transzendentalen Psychologie“ verbunden, die eben doch immer noch Psychologie ist [6. S. 102] (Anm. ***). Nicht zu Unrecht wird Natorp diesen Verdacht zurückweisen und behaupten, dass eine solche Bedeutung nur gerechtfertigt wäre, wenn man einen Autor wie Lange als Paradigma eines neukantianischen Philosophen annähme, der übrigens der einzige ist, auf den sich Husserl ausdrücklich zu beziehen scheint, ohne zu berücksichtigen, dass die „Züruckführung des Apriori auf die ‘Organisation’ [des erkennenden Subjekts] schon längst Cohen und die von ihm gelernt haben, als Abweg erkannt und mit Entschiedenheit abgelehnt haben” [5. S. 280]. In diesem Punkt – also in der Verwicklung des Neukantianismus in die Anschuldigung des „transzendentalen Psychologismus“ – hat Natorp in der Tat eine gute Waffe gegen Husserl und nutzt sie auch, um ihm zu zeigen, dass es im Grunde nicht schwierig ist, den psychologischen Aspekt überall zu finden, wenn man ihn finden will: sogar bei Husserl selbst und in seiner Verwendung eines mehrdeutigen Begriffs wie dem der „Evidenz“ [5. S. 280].
Diese systematische Divergenz führt uns zurück zum zweiten zentralen Punkt von Natorps Besprechung. Für Natorp eröffnet sich, sobald die Möglichkeit festgestellt wurde, Kant im Sinne von Marburg zu interpretieren, d. h. als „ Erkenntniskritik“, die in keiner Weise an die Struktur des Geistes oder an die psychologische Organistation des Erkenntnisapparats gebunden ist, die Möglichkeit, sich – als Kantianern, so tiefgreifend sie auch sozusagen ‘reformiert’ sein mögen – auf dem Boden des Husserlschen Antipsychologismus zu positionieren und von hier aus auf die substantielle Konvergenz zwischen reiner Logik und transzendentaler Logik zu bestehen. Wenn es um die Möglichkeit der tatsächlich gegebenen Wissenschaft geht, wenn es darum geht, die theoretische Grundlage der Theorien zu erurieren, wenn es schließlich darum geht, von den “Grundbegriffen zu den Grundsätzen zu Grundwissenschaften“ überzugehen, warum sollte Husserl dann – fragt sich Natorp – leugnen, dass diese Richtung genau die ist, die „entscheidende Leistung“ von Kant und, eng mit dem verbunden ist, das bereits vom „wahren Entdecker der Logik“, nämlich von Platon, klar umrissen wurde? [5. S. 280–281]. Wenn Husserl kein Vorurteil gegenüber Kant hegen und ihn nicht zu eng interpretieren würde – schlägt Natorp weiter vor –, wäre es für ihn nicht schwierig, eine solche Übereinstimmung der systematischen Ziele zu erkennen, und das gesamte Problem der “logischen Methode„ könnte in ein gemeinsames, von Husserl und den Neukantianern von Marburg verfolgtes Forschungsprogramm eingebunden werden.
Wie später bei der Rezension der Ideen von 1913 [22], scheint auch bei dieser ersten Gelegenheit der öffentlichen Konfrontation mit Husserl die Argumentationsstrategie von Natorp ein bewusster Versuch zu sein, die husserlianischen Positionen mit denen des Marburger Neukantianismus (oder tout court mit Natorps) in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zu Cohen, der die Phänomenologie ungeschickt der „Neuscholastik“ beschuldigen wird [23. S. 56] sieht Natorp – 1901 wie auch ein Jahrzehnt später – in Husserl einen hervorragenden Gesprächspartner, der in den Schoß der kantischen Tradition zurückgeführt werden kann, sobald eine Reihe von Missverständnissen ausgeräumt sind, die die vollständige Verwirklichung dieser Konvergenz verhindern. Natürlich ist sich Natorp in beiden Fällen der auch wesentlichen Unterschiede bewusst, die das heikle theoretische Verhältnis zu Husserl kennzeichnen; aber dieses Bewusstsein scheint ihn nicht daran zu hindern, alle positiven Möglichkeiten zu erfassen, die die Reflexion Husserls in Richtung einer Begegnung mit dem Neukantianismus freisetzen kann, vor allem in dem Moment, in dem sich die Phänomenologie auf eine transzendentale Wende zubewegt und sich der Horizont der konstitutiven und ‘genealogischen’ Dimension der idealen Sphäre jenseits einer rein statischen Auffassung des A priori und der ‘eidetischen Wissenschaft’ öffnet.
Um auf die Rezension der Prolegomena zurückzukommen, besteht kein Zweifel daran, dass diese Versöhnungsstrategie auf erhebliche Schwierigkeiten stößt, was sich im Grunde Natorp selbst bewusst ist, wenn er fragt – obwohl er hofft, dass Husserl im zweiten Band der Logischen Untersuchungen die Lösung einiger entscheidenden Fragen finden wird –, ob das “fortdauernde Misstrauen [von Husserl] gegen den Kritizismus vielleicht das Symptom einer tieferliegenden Differenz [sei]?" [5. S. 282]. Mit anderen Worten, geht es um einen Unterschied, der nicht nur die formale und/oder materielle Natur der Logik betrifft, sondern in einem weiteren Sinne das Verhältnis zwischen dem A priori und dem Empirischen, die Verbindung zwischen dem Idealen und dem Realen. Es geht um absolut zentrale Fragen, die sich aus der Studie der Prolegomena ergeben, die dem Leser jedoch – laut Natorp – “ein gerade logisches Missbehagen” schafft, da die Vermittlung zwischen der reinen Logik (deren formaler Charakter sie keineswegs daran hindern würde, eine Logik der Mathematik und der Wissenschaften im Allgemeinen und damit eine materielle Logik zu sein) und dem Niveau der Empirie, des Realen, der logischen “Realisierung” grundsätzlich fehlt. “Das ‘Reale’[bleibt] ein fremder, verworfener, und doch nichtwegzuschaffender Rest [stehen]. Sonst wollte der ‘Idealismus’ vielmehr im Idealen das Reale, in den Logoi die Onta begründen; so in Plato, so in Leibniz, so in Kant, der besonders klar eben die Frage des Gegenstandes selbst als die zentrale Frage seiner neuen, ‘transzendentalen’ Logik erkennts, ja den ganzen Begriff des Gegenstandes aus den Fornalbestanteilen der Erkenntnis aus dem Logischen im vertiefstten Sinne erst aufbaut” [5. S. 282–283]. Aber es gibt noch mehr. Natorp weisst darauf hin, dass gerade die Notwendigkeit, diesen Punkt zu klären, Husserl zwangsläufig dazu führen muss, sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Logischen und dem Psychischen, zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven zu befassen, denn nur in diese Richtung – d.h., die von Natorp selbst mit seiner Reflexion über das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Grundlage des Erkenntnis eröffnete Richtung – kann das sonst unlösbare Rätsel der „Realisierung des Ideals” lösen und durch eine echte “logische Verbindung” die Kluft „zwischen dem überzeitlichen Bestand des Logischen und ihrer zeitlichen Tatsachlichkeit“ überwinden [5. S. 283].
Und doch war Husserl überzeugt – wie er viele Jahre später hervorhob –, dass das von Natorp angeprangerte „logische Missbehagen“ nicht nur unvermeidlich sei, wenn man die Konsequenzen einer radikalen Kritik des Psychologismus akzeptiere, sondern dass es durch die im zweiten Band der Logischen Untersuchungen begonnenen eigentlichen phänomenologischen Forschungen gelöst werden könne, auch wenn diese noch ungenügend in den Augen der “Idealisten“ Kantischer Prägung waren, die darin ihre Erwartungen an ‚transzendentale Konstruktionen von oben’ enttäuscht sahen und stattdessen den Rückfall in ‚etwas Psychologisches’ beklagen [20. S. 155] (vgl. auch Husserls Brief an Natorp vom 7. September 1901 in [2. S. 84]).
Zu diesem Punkt würde die Diskussion nicht abklingen und wird sich der Knoten im langen Zeitraum zwischen den beiden Rezensionen von Natorp zu den Werken von Husserl immer mehr um den Status der Psychologie, um die subjektive Dimension in ihrer Korrelation zur Objektivität drehen [22]. Aber in Wirklichkeit war auch in der Frage nach der Natur der reinen Logik der Unterschied in der Herangehensweise zwischen Natorp und Husserl nicht ueberwindbar, trotz der unleugbaren Berührungspunkte, die beide – wie aus der Korrespondenz hervorgeht – bei mehr als einer Gelegenheit hervorhoben. In gewisser Weise hatte Natorp vollkommen Recht mit seiner Beobachtung, dass der Begriff des „Formalen“ bei Husserl über die übliche Bedeutung des Begriffs hinausging, und mit seiner Ansicht, dass es sein großer Verdienst sei, „die Frage nach den Grenzen der Logik und Mathematik“ mit Nachdruck gestellt zu haben [5. S. 279]. Die Umwandlung, die Natorp vom Formalen zum Reinen und von diesem zum Transzendentalen vorschlug, schien Husserl jedoch nicht akzeptabel und ließ sich nicht leicht mit dem Husserlschen Projekt einer Wiederaufnahme der Leibnizschen mathesis universalis innerhalb der reinen Logik in eins bringen. Nicht umsonst wird Husserl in der VI. Logische Untersuchung genau in diesem Zusammenhang den „verhängnisvollen“ Fehler Kants beklagen: “Es war verhängnisvoll, daß Kant (dem wir uns trotz alledem sehr nah fühlen) das rein logische Gebiet im engsten Sinne mit der Bemerkung für abgetan hielt, daß es unter dem Prinzip vom Widerspruch stehe. Nicht nur, daß er nie bemerkt hat, wie wenig die logischen Gesetze überall den Charakteranalytischer Sätze in dem Sinne besitzen, den er selbst definitorisch festgesetzt hatte; er sah nicht, wie wenig mit dem Hinweis auf ein evidentes Prinzip analytischer Sätze für eine Aufklärung der Leistung des analytischen Denkens gewonnen sei“ [9. S. 732].
Dennoch schloss diese Kritik an Kant in Husserls Augen auch einen positiven Aspekt nicht aus: Sich nicht „das rein logische Gebiet im engsten Sinne [...] für abgetan“ zu halten, bedeutete für Husserl in der Tat den Eintritt in ein äußerst reichhaltiges Forschungsfeld, das jedoch weder auf den von Natorp gefürchteten bloßen Formalismus noch auf die transzendentale Ebene der neukantianischen Tradition reduzierbar war, sondern sich an einer „neuen Kritik der Erkenntnis“ orientierte, die sich zwar mit dem kantischen Erbe auseinandersetzen musste, um es dennoch entlang neue Wege zu entwickeln. Und genau auf diesem Gebiet wird die Auseinandersetzung des Neukantianismus von Natorp mit der aufkommenden Phänomenologie von Husserl in eine neue Phase eintreten, jenseits der Kontroversen über den logischen Psychologismus und nun direkt auf der Ebene der „kritischen“ Psychologie und des reinen Bewusstseins als „phänomenologischer Befund“ (siehe dazu [24. S. 228–251; 25–28]. Es geht aber um das weitere Kapitel einer Geschichte, die an anderer Stelle in ihrer ganzen Breite erzählt werden sollte [29].
1 [7. S. 323–324] wies auf die Existenz einer fast vollständigen handschriftlichen Transkription des Aufsatzes von Natorp im husserlschen Nachlass hin, die Husserl vor 1896 angefertigt haben soll, was zeigt, wie sehr Husserls Argumente gegen den Psychologismus Natorp verdanken: Eine Schuld, behauptet Kern nicht zu Unrecht, die wichtiger ist als die Schuld, die Husserl Frege gegenüber aufgrund seiner berühmten Verurteilung des husserlschen „Psychologismus“ in der Philosophie der Arithmetik eingegangen ist.
About the authors
Massimo Ferrari
University of Turin
Author for correspondence.
Email: massimo.ferrari@unito.it
Professor Emeritus 8 Via Verdi, Turin, 10124, Italy
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