Heinrich Rickerts Theorie des Philosophischen Anfangs

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Abstract

In diesem Beitrag wird die philosophische Konzeption des Anfangs der Philosophie als Beziehung zum Verhältnis von Subjekt und Objekt untersucht, die der Neukantianer Heinrich Rickert entwickelt hat. Die Untersuchung rekonstruiert erstens den problematischen Hintergrund, der Rickert zum Problem des Anfangs und zu seiner Unterscheidung zwischen drei Bedeutungen des Begriffs ‘Anfang’ führte. Dieser Hintergrund steht im Zusammenhang mit der Wiederbelebung der dialektischen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zweitens wird eine Konzeption des korrelativen Anfangs der Philosophie als Antwort auf das von Hegel zu Beginn der Wissenschaft der Logik formulierte Paradoxon vorgeschlagen. Auf diese Weise wird Rickerts Argumentation als Antwort auf die drei wichtigsten Kritikpunkte Hegels am Anfang der Philosophie durch den Begriff des Ich analysiert. Um die Argumente zu verdeutlichen, die Rickert in seinem Aufsatz über den Begriff des Anfangs der Philosophie entwickelt, werden wir die wesentlichen Hinweise auf Rickerts Konzeption des heterologischen Denkens geben. Schließlich wird der Ansatz eines korrelativen Anfangs im Hinblick auf das allgemeine Projekt einer Transzendentalphilosophie bewertet. Wir werden aufzeigen, wie das, was Rickert die Wendung zum Objekt nennt, Rickert zu einer paradoxen Position verpflichtet, die er selbst als ‘transzendentalen Empirismus’ charakterisiert. Jenseits dieser Schwierigkeit will die vorliegende Untersuchung zeigen, dass Rickerts Position eine der originellsten Positionen der Transzendentalphilosophie darstellt, die sich mit der Hegelschen Frage nach dem wahren Anfang der philosophischen Wissenschaft auseinandersetzt.

Full Text

Einleitung

Das zentrale Argument, das Rickert in seinem Text über den Anfang der Philosophie entwickelt, hat den Charakter einer Forderung und einer Provokation. Denn steht Rickerts Aufsatz über den Anfang in einem Kontext, in dem bereits eine Auseinandersetzung mit dem spekulativen Idealismus stattgefunden hat [1. S. 9]. Und das nicht nur, weil Rickert die bekannte Passage aus der Wissenschaft der Logik1 als Beginn seiner Überlegungen wählt, sondern auch aufgrund von bestimmten Bemerkungen, die, wie wir vermuten dürfen, Rickert selbst im Blick gehabt haben muss. Wie seine Zeitgenossen stellt Rickert keine Bibliographie an das Ende seines Textes. Dennoch ist es nicht unmöglich, eine intuitive Idee zu bekommen, die es uns erlaubt, Rickerts Text als eine polemische Intervention zu verstehen. Diese Bemerkungen können als Forderungen an die neukantianische Philosophie verstanden werden. Sie stammen von zwei Autoren, die im  weitesten Sinne zur philosophischen Welt der Neukantianer gehören: Jonas Cohn (1869—1947) und Siegfried Marck (1889—1957).

Der früheste Hinweis stammt von Siegfried Marck: “Der Kritizismus kennt keinen ‘Anfang’ der Logik, er steht sofort mitten in ihr, in ihrer ‘Mitte’; Hegel folgert aus der negativen Kritik des Anfangs der Logik nicht seine Ausschaltung, sondern seine Aufhebung im Ende” [3. S. 48]. Neben der positiven Beurteilung Hegels weist Marck auf etwas hin, was die neukantianische Philosophie, ebenfalls eine Variante des Kritizismus, nicht kann, nämlich den Anfang der Philosophie zu denken (wobei er natürlich die Logik in dem von Hegel verwendeten Sinne versteht).

Jonas Cohn, damals ein etablierterer Autor als Marck, erlaubt sich bereits, den Empfänger seiner Einwände mit seinem Namen zu benennen: “Gerade deshalb hat die Theorie der Dialektik von niemandem fast mehr zu lernen als von ihrem entschiedensten Gegner. Rickert liefert den indirekten Beweis dafür, dass undialektische Konstruktion in der Philosophie nicht ausreicht; aber darüber hinaus hält sein Begriff der Heterothesis ein wesentliches Wahrheitsmoment fest, dass nämlich bei jedem Schritte des Denkens Neues, seinem Urpsrunge nach Denkfremdes aufgenommen werden muss.” [4. S. 50—51]

Die Fragen zu Ricker sind klar: Ist es möglich, den Anfang der Philosophie zu denken und gleichzeitig, wie es die Neukantianern wollte, im Geist der Transzendentalphilosophie zu bleiben? Ist das Konzept der Heterotesis für diesen Zweck nützlich und auch ausreichend? Die Antwort von Rickert lautet natürlich, dass dies möglich ist. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts wollen wir zeigen, wie und warum.

Die Originalität von Rickerts Position zum Anfang der Philosophie liegt in seinem Versuch, am Anfang der Philosophie eine Korrelation zu verorten, d.h. für Rickert ist der Anfang der Philosophie nicht einfach, sondern zweifach. Diese “Zweiheit” des Anfangs der Philosophie, die Dualität zwischen Subjekt und Objekt — wir werden gleich sehen, worin sie besteht —, kann ebenfalls aus verschiedenen Gesichtpunkte betrachtet werden. Meines Erachtens lassen sich mindestens drei solcher Ansichten aufzeigen, die dann drei verschiedene Argumentationsweisen darstellen: eine indirekte Argumentationsweise, eine direkte und schließlich eine kritische oder polemische Weise.

In Bezug auf den in dieser Einleitung abgesteckten Rahmen schlägt der vorliegende Artikel vor, die von Rickert entwickelte Theorie vom Anfang der Philosophie aus einer doppelten Perspektive zu diskutieren: als Anfang eines Systems der Transzendentalphilosophie und als Antwort auf Hegels Kritik an der Philosophie der Reflexion.2 Wir werden zunächst den problematischen Hintergrund rekonstruieren, der Rickert zum Problem des Anfangs und seiner Unterscheidung zwischen drei Bedeutungen des Begriffs “Anfang” führt. Dann werden wir Rickerts Auffassung des Anfangs der Philosophie als Antwort auf bestimmte Schlüsselpassagen von Hegels Wissenschaft der Logik darstellen. Schließlich werden wir die Konsequenzen von Rickerts Lehre vom Anfang für die Definition der Transzendentalphilosophie und die Kritikpunkte, die gegen sie vorgebracht werden können, analysieren.

Der Anfang als Korrelation: Interpretation und Kritik

Der offensichtliche Widerspruch, der sich in der Passage aus der Wissenschaft der Logik ergibt, resultiert aus einer doppelten Forderung an den Anfang der Philosophie: Er muss sowohl unmittelbar als auch vermittelt sein. Rickerts Strategie besteht darin, zu behaupten, dass der Widerspruch, dessen Legitimität für die Entwicklung von Hegels eigener Position wesentlich ist, das Ergebnis einer Verwechslung verschiedener Bedeutungen des Begriffs “Anfang” ist.

Gegen Hegel stellt Rickert drei Bedeutungen des Begriffs “Anfang” vor: zeitlicher (vermittelter) Anfang, Anfang des Seins und Anfang des Systems (unmittelbar). Der erste Begriff des "Anfangs" entspricht einem zeitlichen Anfang oder Ausgangspunkt. Er ist der faktische Anfang der philosophischen Reflexion und entspricht daher nicht unbedingt etwas Unmittelbarem [1. S. 9].

Diesem faktischen Anfang steht eine rationale, d.h. nicht-zeitliche, Dimension gegenüber. In einem rationalen Sinn kann “Anfang” entweder das erste Prinzip eines Gedankensystems bezeichnen, auf das sich eine philosophische Theorie gründet und das daher etwas logisch Unmittelbares ist; oder er kann auch ein Prinzip des Seins, d.h. ein Fundament der Welt, das als unmittelbar, aber in einem ontologischen Sinn betrachtet werden kann, bezeichnen. Diese Bedeutungen sind argumentativ unterscheidbar, und deshalb muss die Frage nach dem Anfang der Philosophie beantworten, welche dieser Bedeutungen die vorrangige ist.

Im Grunde fragt die Frage nach dem Anfang der Philosophie nach dem Verhältnis zwischen der Entwicklung des Denkens (Anfang des Systems — subjektiv) und der Struktur der Welt (Anfang des Seins — objektiv). Hinsichtlich des letzteren Verhältnisses nimmt Rickert wiederum einen Standpunkt aus der Transzendentalphilosophie ein:

“Der kritisch geschulte Philosoph wird im ‘Anfang’ des Seins vielmehr das Letzte sehen, über das er sich am Beginn des Systems noch jedes Urteils zu enthalten hat […] Vom logischen Anfang aus soll der Weg allmählich zum sachlichen Anfang oder zum nicht weiter ableitbaren Weltgrund hinführen. Hielte man die beiden Anfänge oder Unmittelbarkeiten nicht auseinander, so verlöre die Entwicklung eines gegliederten Gedankengefühges ihr eigentliches Ziel, und ein System der Philosophie als eine mit Hilfe von Gründen fortschreitende Darstellung des Weltganzen könnte man entbehren. Mit dem Anfang hätte man zugleich das Ende erreicht” [1. S. 12].

Hier finden wir eine erste und wesentliche Divergenz zwischen Hegels und Rickerts Auffassungen. Nach der von Rickert vertretenen allgemeinen Konzeption der Philosophie gibt es eine grundsätzliche Trennung zwischen einem Anfang des Denkens und einem Anfang der Welt, d.h. zwischen einem logischen Anfang und einem ontologischen Anfang. Mit seiner Unterscheidung zwischen verschiedenen Bedeutungen des Begriffs “Anfang” verfolgt Rickert eine eindeutig antihegelianische Strategie. Denn es ist eine Geste, die dem Geist der Dialektik zuwiderläuft. Rickert löst den essentiellen Widerspruch des Anfangs der Philosophie in eine Pluralität von nicht widersprüchlichen Bedeutungen auf.

  1. a. Die Mangeln von Voraussetzungen in der Philosophie

Die erste Forderung an die Philosophie ist, dass sie ohne Voraussetzungen beginnen soll. Auch hier macht Rickert eine Aussage, die im vollen Sinne des Wortes als antidialektisch bezeichnet werden kann:

“Jeder Anfang macht also notwendig irgendeine Voraussetzung, genauer: er ist selber Voraussetzung, d. h. der Philosoph nimmt bereits am Anfang etwas als feststehend an, und das allein kann man von ihm verlangen, daß seine Anfangs-Voraussetzung nicht auf einer weiteren Voraussetzung ruht oder durch sie erst vermittelt wird.” [1. S. 15]

Für Rickert besteht der eigentliche Anspruch der Transzendentalphilosophie in einem Maximum an Erkenntnis durch ein Minimum an Voraussetzungen, nicht aber in deren völliger Absenz. Gleichzeitig müssen wir bedenken, dass Rickert die Philosophie als Wissenschaft von der Welt in ihrer Totalität versteht. Daher muss die Philosophie voraussetzen, dass es eine Totalität der Welt gibt [1. S. 16]. Die Philosophie muss davon ausgehen, dass die verschiedenen Bereiche, die von den Spezialwissenschaften abgedeckt werden, eine gemeinsame Grundlage haben, die sie zu Mitgliedern eines Universums macht:

“Sie muß so beginnen, daß ihr Anfang bereits auf das Ende, d. h. auf die Erkenntnis des Weltganzen hinweist, und daraus folgt: schon das erste Glied des Systems muß einen universalen Charakter zeigen, d. h. zwar noch nicht das Ganze, aber ein Ganzes sein” [1. S. 17].

Dies erlaubt Rickert, eine zusätzliche Anforderung am Anfang der Philosophie zu stellen, nämlich dass sie nicht nur unmittelbar, sondern auch formal und damit universal sein muss.

1.b. Der Anfang beim Ich

Im Zentrum dieser Rekonstruktion der transzendentalen Interpretation des Anfangs der Philosophie steht die Behauptung, dass die Philosophie mit dem Selbst beginnen muss. Hegel widmet der Diskussion dieses Satzes einen langen Abschnitt:

“Ein origineller Anfang der Philosophie aber kann nicht ganz unerwähnt gelassen werden, der sich in neuerer Zeit berühmt gemacht hat, der Anfang mit Ich. Er kam teils aus der Reflexion, daß aus dem ersten Wahren alles Folgende abgeleitet werden müsse, teils aus dem Bedürfnisse, daß das erste Wahre ein Bekanntes und noch mehr ein unmittelbar Gewisses sei” [2. S. 76].

Hegel weist auf mindestens drei Probleme hin, die mit dem Anfang der Philosophie im Selbst verbunden sind. Erstens (1) ist die Idee eines Bewusstseins im Allgemeinen willkürlich. Das “Ich”, das als Anfang der Philosophie fungieren kann, ist sicherlich nicht das empirische “Ich”. Mit dem Ich zu beginnen, erfordert daher ein Verfahren, dessen Ergebnis die Ausarbeitung des Begriffs des allgemeinen Bewusstseins oder des reinen Ichs ist. Diese Reinigung des Ichs erscheint jedoch als eine Anforderung des Problems des Anfangs. So erweist sich die Aufgabe als etwas, das dem Begriff des Ichs selbst äußerlich ist, und entbehrt daher jeder wirklichen Notwendigkeit. Im Grunde ist das Ich des Anfangs entweder etwas von außen Vermitteltes oder etwas Willkürliches. Zweitens bietet der Anfang durch das Ich nur die Illusion von Gewissheit (2). Dies ist eine Konsequenz aus der Notwendigkeit einer Reinigung des Ich-Begriffs: “Damit tritt vielmehr der Nachteil der Täuschung ein, daß von etwas Bekanntem, dem Ich des empirischen Selbstbewußtseins die Rede sein solle, indem in der Tat von etwas diesem Bewußtsein Fernem die Rede ist” [2. S. 77]. Schließlich setzt der Anfang im reinen Ich den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt voraus (3). Vom Standpunkt des gereinigten Selbst aus müsste sich der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt auflösen, weil die Beziehung zu einem Objekt als Gegensatz eine Grenze und damit eine Partikularisierung ist. Aber wenn man diesen Standpunkt akzeptiert, dann hat es keinen Sinn mehr, sich auf ein Selbst zu beziehen. Für Hegel wird entweder ein alternativer Ausgangspunkt gesucht oder die Partikularisierung des Gegensatzes zum Objekt explizit oder heimlich bejaht.3

Um die Diskussion zu erleichtern, wird die Erläuterung von Rickerts Interpretation parallel zur Behandlung der drei im vorigen Absatz genannten Kritikpunkte erfolgen.

Wir wissen, dass das erste Merkmal des Anfangs der Philosophie ihr unmittelbarer Charakter ist. Für Rickert muss etwas, das unabhängig von jeglichem Vermittlungsbezug ist, etwas unmittelbar Gegebenes sein, und, wiederum nach Rickert, “das Wort ‘gegeben’ verliert nämlich seinen Sinn ohne Voraussetzung eines Ich oder eines ‘Subjekts’, dem etwas gegeben ist” [1. S. 18].

Der gegebene Charakter des Unmittelbaren enthält eine Dualität. Er verweist nicht nur auf das Ich, dem etwas gegeben ist, sondern auch auf das, was unmittelbar gegeben ist. Neben der Gewissheit des Ichs als erstem Prinzip steht die Gewissheit dessen, was dem Ich unmittelbar gegeben ist. Aus diesem Grund hat der Anfang der Philosophie die Form eines Gegensatzes zwischen dem Ich-Selbst und etwas, das sich davon unterscheidet und ihm gegenübersteht, einem Nicht-Ich: “Die Wahrheit der beiden Sätze ‘Ich bin’ und ‘Das, was mir unmittelbar gegeben ist’ leuchtet ohne weitere Vermittlungen ein” [1. S. 21]. Rickert behauptet, dass wir am Anfang der Philosophie nicht nur ein Unmittelbares finden, sondern zwei, ein Unmittelbares des Pols des Ich und ein Unmittelbares des Pols des Nicht-Ich. Es bleibt dann zu rekonstruieren, wie beide Pole universal sein können. Hier kommt Hegels zweite Kritik des Anfangs im reinen Selbst ins Spiel.

Hegel verweist auf eine Verwechslung zwischen den Bestimmungen des reinen Ich und des empirischen Bewusstseins. Rickerts Strategie besteht wiederum darin, durch begriffliche Klärung eine Auflösung der Widersprüche um den Ichsbegriff zu suchen. Rickert muss auch einen Weg der “Reinigung” des Bewusstseins vom empirischen Selbst zum “Bewusstsein im Allgemeinen” anbieten, denn der Anfang der Philosophie muss universal sein. Um diese Aufgabe zu bewältigen, unterscheidet Rickert zwischen zwei Arten der Abstraktion, der generalisierende und der isolierenden Abstraktion.

Die erste Art der Abstraktion, die generalisierende Abstraktion, ist diejenige, die eine Beziehung zwischen exemplarischen Individuen und einem Oberbegriff herstellt. Dieser Oberbegriff besitzt keine Bestimmung, die nicht schon in den exemplarischen Individuen zu finden ist. Deshalb bietet er auch keine Bestimmung, die nicht schon in der besonderen Instanz zu finden ist.  Der Gattungsbegriff des Selbst würde uns im Hinblick auf den Beginn der Philosophie keine Bestimmung bieten, die nicht im empirischen Selbst zu finden ist. Dieser Ausgangspunkt hätte eine erste Einschränkung. Allgemeine Begriffe sind Begriffe von etwas Bestimmtem. Die Universalität des Anfangs der Philosophie erfordert einen allgemeinen Begriff des Allgemeinen. Dies ist die Art von Verwirrung, die Hegel in Bezug auf den Anfang im reinen Selbst aufzeigt. Bei Rickert wiederum handelt es sich nicht um eine Progression oder Läuterung vom konkreten Selbst zum universellen Ich, sondern um die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Begrifflichkeit.

Diese zweite Art der Allgemeinheit ist, wie bereits erwähnt, das Produkt der isolierenden Abstraktion. Rickert erklärt, dass die dem Begriff eigene Beziehung zwischen allgemeinen Elementen hergestellt wird:

“Doch weil ein solcher Sprachgebrauch leicht zu Mißverständnissen führt, ziehen wir es vor, nicht alles, was wir durch Abstraktion in einer "Reinheit" als ein Allgemeines denken, Begriff zu nennen, sondern sprechen von Begriffen stets im Unterschied von dem, was unter sie fällt. Das durch begriffliche Abstraktion erfaßte Etwas, das allgemein sein kann wie sein Begriff, bezeichnen wir dann als ein allgemeines Moment” [1. S. 29]

Dieses allgemeine Moment entspricht dem ‘Ich’, das als Anfang der Philosophie fungiert. Das Ergebnis der isolierenden Abstraktion sind nicht die wesentlichen Eigenschaften des Selbst, sondern die Bestimmung einer allgemeinen Struktur als Moment des Ich. Diese Aussage Rickerts ist, wie seine Einführung des Begriffs des ‘Gegebenen’, ein philosophisches Arkanum. Rickert behauptet, dass bestimmte Begriffe wie Ichheit oder Individualität eine Universalität anderer (transzendentaler) Ordnung haben, aber die Unklarheit darüber, warum dies der Fall ist, schwächt Rickerts Position.4

Der dritte Hegelsche Einspruch weist darauf hin, dass der Anfang im Ich den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt. Im Gegenteil, für Rickert gehört es zum Wesen des Anfangs der Philosophie, dass er nur als Verbindung von Subjekt und Objekt gedacht werden kann. Subjekt und Objekt sind Begriffe, die erst in ihrer gegenseitigen Bezugnahme Bedeutung erlangen. Wenn die Philosophie mit dem Ich beginnen soll, muss sie notwendigerweise auch mit einem Nicht-Selbst beginnen, mit einem Objekt, das in Korrelation zum Ich des Anfangs steht. Keine Definition des Subjekts kann ohne einen Bezug auf das Objekt angeboten werden, und deshalb muss der Anfang der Philosophie eine Dualität sein:

“Zum Subjekt gehört ein Objekt, ja diese Begriffe werden nur in ihrer gegenseitigen Beziehung aufeinander verständlich. Daher muß auch das Ich am Anfang der Philosophie, falls damit der ganze Anfang gemeint sein soll, so verstanden werden, daß er sich in ein Ich im engeren Sinne und ein Nicht-Ich spaltet. Das dem Ich unmittelbar Gegebene und notwendig mit ihm verknüpfte Nich-Ich wollen wir das immanente Nicht-Ich nennen. Das Ich im weiteren Sinne als ganzer Anfang umfaßt dann also das Ich im engeren Sinn und das ihm immanente Nicht-Ich als Doppeltheit von Ich-Subjekt und Ich-Objekt.” [1. S. 20]

Die Philosophie muss von einer Totalität ausgehen, wenn auch einer Totalität im formalen Sinne. Diese Totalität besteht dann in der Synthese zwischen dem immanenten Selbst und Nicht-Selbst, zwischen Form und Inhalt, zwischen dem Bewusstsein im Allgemeinen und einem gegebenen Inhalt des Bewusstseins im Allgemeinen. Diese Synthese entspricht dem, was Rickert “die Welt des Anfangs” nennt. [1. S. 30]

Um auf Hegels Kritik zurückzukommen, akzeptiert Rickert teilweise die Legitimität von Hegels Kritik. Das reine Ich an den Anfang der Philosophie zu stellen, erfordert einen unausweichlichen Bezug auf ein Anderes als das Ich, auf den Gegenstand. Andererseits muss der Anfang auch dem Anspruch entsprechen, eine Totalität zu sein, und aus diesem Grund scheint der Bezug auf ein Anderes prinzipiell ausgeschlossen zu sein. Der Bezug auf ein Anderes ist eine Bestimmung und damit eine Singularisierung, die mit der Universalität des Anfangs unvereinbar ist. Aus diesem Grund muss Rickert die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt nach einem anderen Modell als dem der Determination konzipieren. Dieses Modell ist der zugrundeliegende Schlüssel zum Verständnis von Rickerts Antwort auf die drei Ebenen der Hegelschen Kritik und wird daher den nächsten Abschnitt unserer Arbeit einnehmen.

Das heterothetische Prinzip: das Eine und das Andere

Mit dem Begriff “Heterotesis” bezeichnet Rickert ein Begriffspaar mit der spezifischen Eigenschaft, dass diese Begriffe ihre spezifische Bedeutung verlieren, wenn sie nicht im Gegensatz zueinander gedacht werden:

“Der eine fordert den anderen als notwendige Ergänzung, und erst das aus beiden bestehende Ganze ist wahrhaft denkbar. Gewiß können wir das eine Glied einer solchen Korrelation begrifflich vom andern trennen, aber wir müssen es dabei zugleich auf das andere beziehen, weil sonst nicht einmal die begriffliche Trennung möglich wäre. In der Regel sind solche Begriffe Glieder einer Alternative und bilden zusammen eine Totalität, in der weder das eine noch das andere Glied fehlen kann.” [1. S. 23]

Diese Korrelation der Begriffe wird von der Bestimmung (Negation) unterschieden. Die Determination ist insofern spezifisch für die Teile der Welt, als ‘jede Determination eine Negation ist’. Die Bestimmung eines Inhalts erfordert die Negation in Bezug auf einen anderen unbestimmten Inhalt. Die Totalität kann auf diese Weise nicht begriffen werden, weil es kein Anderes gibt, in Bezug auf das die Totalität die Negation sein kann. Die Totalität kann nur durch solche Begriffe artikuliert werden, nämlich durch solche, die ein heterothetisches Paar bilden.

Einer der Texte, in denen Rickert diese Idee ausführlicher entwickelt, ist die Abhandlung “Das Eine, die Einheit und die Eins” [5]. Die erste Darstellung der Heterotesis entspricht der Charakterisierung des Erkenntnisgegenstandes, der nur im Sinne einer Korrelation von Form und Inhalt verstanden werden kann:

“Freilich ist, wie wir noch genauer sehen werden, das rein Logische nicht absolut "einfach". Wohl aber bleibt der denkbar einfachste rein logische Gegenstand ein Inhalt, von dem sich nur sagen läßt, daß es "ein" Inhalt überhaupt ist, also Inhalt überhaupt in der Form des Einen. Das noch Einfachere oder das absolut Einfache ist kein Gegenstand, sondern nur ein Moment am Gegenstand, das sich gesondert denken läßt. Daher muß der einfachste Gegenstand schon Verbindung einer einfachen Form und eines einfachen Inhalts sein” [5. S. 125—126].

Die Momente des Gegenstandes, Form und Inhalt im Allgemeinen, bedingen sich gegenseitig. Der Erkenntnisgegenstand als Ganzes muss als eine Beziehung verstanden werden, in der die aufeinander bezogenen Momente Form und Inhalt sind. Dasselbe Modell des relationalen Denkens wird abstrakt als Beziehung zwischen der Identität und ihrem Andersheit ausgedrückt [5. S. 128]. Was den Gegenstand im Allgemeinen betrifft, so gehört zu seiner Identität, zu seiner Form, notwendigerweise ein anderer, d.h. ein Inhalt, dazu. Objektiv zu denken, heißt also, relational zu denken. Die Charakterisierung der Heterotesis oder Heterologie in “Das Eine, die Einheit und das Eine” wird durch den Verweis auf das Binom von Form und Inhalt erreicht

“Die Heterologie ist schon bei der Bestimmung jedes theoretischen Gegenstandes notwendig, den wir logisch denken wollen. Sogar die Identität läßt sich zum selbständigen Gegenstand nicht durch A allein, sondern erst durch die Formel A ist A, also durch ein anderes A bestimmen. Einen Satz der Identität gibt es daher streng genommen in völlig adäquater Formulierung nicht. Identität und Andersheit gehören notwendig zusammen” [5. S. 128].

Die Anwendung dieses Prinzips ist nicht lokal, d.h. exklusiv für die Erkenntnistheorie. Im Gegenteil, Rickert stellt fest, dass dieser Modus des heterothetischen Denkens für das philosophische Denken im Allgemeinen charakteristisch ist. Die Heterotheose ist also der Modus, durch den die begriffliche Artikulation einer Totalität gedacht werden kann, und damit sind wir wieder bei der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie.

Die Beziehung zwischen dem einen und dem anderen ist logisch gesehen die grundlegendste mögliche Beziehung:

“das Andere ist genau ebenso ‘positiv’ wie das Eine, oder wenn man einen solchen Ausdruck vermeiden will: das Andere steht ursprünglich oder von Anfang an neben dem Einen, was selbstverständlich nicht zeitlich gemeint ist, und bildet ein Element innerhalb des rein logischen oder des theoretischen Gegenstandes überhaupt, das zwar notwendig zum Einen gehört, aber nicht aus ihm durch etwas abgeleitet werden kann, worin die Andersheit nicht bereits enthalten wäre.” [5. S. 129]

Derselbe Gedanke einer heterothetischen Opposition, in der Gegensätze positiv charakterisiert werden, wird von Rickert verwendet, um den Zusammenhang des Anfangs der Philosophie zu charakterisieren. Der Anfang der Philosophie hat nicht die Form einer determinierten Negation, sondern die einer Heterotheose:

“So bilden das reine Ich und das ihm immanente Nicht-Ich zusammen eine ‘Welt’, die als umfassende Welt des Unmittelbaren bezeichnet werden darf, und die durch ihren Begriff daher die kritische Forderung in demselben Maße wie die universale erfüllt” [1. S. 32].

Diese Aussage hat gewichtige Konsequenzen, denn unter dem Gesichtspunkt dieser Korrelation hat keiner der beteiligten Faktoren eine begriffliche Priorität gegenüber dem anderen [5. S. 131]. Die Philosophie beginnt sowohl mit dem reinen Ich als auch mit dem Objekt im Allgemeinen, oder genauer gesagt, sie beginnt nur mit ihrer heterothetischen Korrelation.

Heterotesis und Transzendentalphilosophie

In diesem dritten und letzten Abschnitt werden wir die Konsequenzen von Rickerts Lehre vom Anfang für die Definition der Transzendentalphilosophie und die Kritikpunkte, die gegen sie vorgebracht werden können, analysieren. Im Wesentlichen werden wir uns von den folgenden beiden Fragen leiten lassen: Was sind die grundlegenden Elemente für eine Bewertung von Rickerts Vorschlag; was können wir aus diesem Vorschlag hinsichtlich des Problems des Anfangs der Philosophie lernen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir auf den Gegensatz zwischen der Hegelschen und der transzendentalen Interpretation des Problems des Anfangs zurückkommen. Beide stellen konkrete Beispiele für unterschiedliche Arten des philosophischen Denkens dar. Christian Krijnen erklärt diesen Gegensatz treffend mit den Begriffen eines Quasi-Monismus der Korrelation versus eines Quasi-Monismus der Negation [6. S. 99]. Der Gegensatz zwischen den beiden Prinzipien des Denkens — Korrelation und Negation — nimmt eine besondere Form an, wenn das Problem des Anfangs der Philosophie untersucht wird. Diese Form wird durch den Begriff der Bewegung des Denkens verkörpert. Das heißt, das Problem des Anfangs kann nicht rein und ausschließlich im Sinne einer begrifflichen Klärung bewertet werden. Es gibt vielmehr eine zusätzliche Dimension, die berücksichtigt werden muss, nämlich die Dimension des Fortschreitens oder der Entwicklung des Anfangs selbst hin zur Bildung eines Systems des Denkens als solchem.

Bei Hegel ist es gerade der Gedanke des Anfangs der Philosophie, der durch die Forderung nach einem unmittelbaren unbestimmten Anfang zur ersten Bestimmung des Systems führt, nämlich der Überwindung der Dialektik zwischen Sein und Nichts im Werden. Es ist der Gedanke des Anfangs, der die Logik in Gang setzt, d.h. ihre Dynamik selbst bestimmt. Im Falle der Transzendentalphilosophie hingegen, so die neokantianische Interpretation von Rickert, geht die Dynamik nicht vom Begriff des Anfangs selbst aus, sondern die Beziehung zwischen dem Anfang des Denkens und der Erkenntnis des Anfangs des Denkens bleibt äußerlich [6. S. 104]. Dies bedeutet, verstanden als Kritik an der Idee eines korrelationalen Anfangs, dass das Fortschreiten von der Korrelation zwischen reinem Selbst und Objekt im Allgemeinen ständig die Einbeziehung neuer Bestimmungen erfordert, die in diesem anfänglichen Binom nicht (immanent) vorhanden sind. Diese Kritik setzt natürlich die Legitimität der spekulativen Bewegung des Denkens voraus. Aber unabhängig von dieser Gültigkeit ist es wichtig, Rickerts eigene Position in dieser Angelegenheit zu betrachten.

Erstens hält Rickert die Beziehung des Andersseins für logisch vorrangig vor der Negation. Dieser Vorrang stellt den expliziten Kern seiner Kritik an der Hegelschen Philosophie dar. Für Rickert bietet die Negation kein positives Wissen über das Andere, sondern, wenn es um eine ausschließende Alternative geht, zwischen dem Einen und dem Anderen, weist die Negation einfach auf das Andere hin [5. S. 130], sie ist in der Lage, das Andere zu entdecken. Sie ist in der Lage, das Andere zu entdecken, aber nicht, es zu schaffen. Der schöpferische Charakter der Negation besteht für Rickert in dem Schein, der durch die Verwechslung der Negation mit dem logisch vorausgehenden Begriff der heterothetischen Opposition entsteht.

Zweitens behauptet Rickert, dass nur sein eigenes Verständnis des Denkens als Heterotesis es ermöglicht, das Denken in Bewegung zu setzen [5. S. 131]. Das spekulative Denken würde versuchen, das Denken auf der Grundlage der bloßen Identität in Bewegung zu setzen, während der Bezug auf einen anderen erforderlich ist. Doch angesichts dieser Phantasie bekräftigt Rickert stets das Primat der Dualität, d.h. der Beziehung. Es ist dieses Zusammentreffen der Dualität, das der ersten Bewegung des Denkens entspricht, d.h. der Synthese des einen und des anderen in ihrer Korrelation: “In ihr [die Synthese] erst haben wir in Wahrheit den vollen "Anfang" des Denkens. Thesis und Heterothesis sind nur durch Analysis der ursprünglichen Synthesis begrifflich isolierte Momente des Logischen” [5. S. 132].

Die Momente sind also nicht falsch in ihrer Einseitigkeit, sondern einfach Momente. Aber was sollen wir dann unter Bewegung verstehen? Und was zwingt uns dazu, in Bezug auf die Korrelation zwischen reinem Ich und Objekt im Allgemeinen so voranzuschreiten, dass wir unseren ‘zweiten’ Schritt in der Philosophie machen? Hier kommt der Unterschied zwischen dem korrelativen Anfang und dem bloßen Anfang durch das reine Ich ins Spiel.

Erinnern wir uns an das allgemeine philosophische Motiv, das hinter der Idee der Korrelation steht, so sehen wir, dass Rickert versuchte, sowohl einer objektivistischen als auch einer subjektivistischen Tendenz entgegenzutreten. Während die idealistische Philosophie, die den Anfang der Philosophie im Ich sucht, zur Auflösung des Objekts im Subjekt neigt, positioniert die Idee der Korrelation Subjekt und Objekt als gleichrangige Elemente. So kann die Bestimmung des logischen Denkens selbst nicht ohne einen Bezug auf das Objekt selbst vorankommen:

“Nicht allein bei der Erkenntnis der Objekt-Welt ist der Inhalt des unmittelbar Gegebenen zu berücksichtigen, sondern auch bei der weiteren Behandlung der Subjekt-probleme kommen wir ohne eine Wendung zum Objekt nicht den kleinsten Schritt über das reine Ich hinaus. Jede Differenzierung des identischen Ich-Bewußtseins nämlich wird allein dadurch möglich, daß wir den Inhalt heranziehen, der dem Ich auch als unmittelbar gegebenes Objekt gegenübertreten kann, also begrifflich auf die objektive Seite der Ich-Welt des Anfangs gehört, so eng er faktisch auch mit dem Subjekt verbunden sein  mag” [1. S. 42]

Um bei der Bestimmung des Subjekts voranzukommen, zum Beispiel bei der Unterscheidung zwischen einem erkennenden Subjekt und einem Subjekt, das künstlerische Schönheit schätzt, ist ein Durchgang durch einen objektiven, dem Bewusstsein gegebenen Inhalt erforderlich. Auf diese Weise wird die Idee eines Anfangs durch Korrelation, anstatt eine strenge Rechtfertigung eines Anfangs durch das Selbst zu bieten, letztendlich das beinhalten, was Rickert eine “Wendung zum Objekt” nennt. Nur durch die Einbeziehung dieser neuen Ausrichtung auf das Objekt kann ein Fortschritt in Bezug auf das reine Selbst erzielt werden. Auf diese Weise ist die Bewegung des Denkens tatsächlich etwas, das von "außerhalb" des reinen Denkens selbst kommt: “Wo man sich nicht auf das allgemeinste a priori des reinen Ich beschränkt, sondern die Mannigfaltigkeit der Formen des Subjekts aufzeigen will, hat man Rücksicht auf den anschaulich gegebenen Bewußtseinsinhalt zu nehmen” [1. S. 43]. Dieser Übergang vom reinen Ich im Allgemeinen zur Mannigfaltigkeit seiner Formen ist für Rickert auch der Übergang vom bloßen Anfang der Philosophie zur Bildung ihres Systems. Die Bewegung, auf die Rickert sich bezieht, bedeutet also nicht nur einen Schritt über den Anfang der Philosophie hinaus, sondern auch die Einfügung eines wirklich äußeren Elements in den ursprünglichen Zusammenhang, der am Anfang der Philosophie gesetzt wurde.

Diese Wendung zum Objekt wurde bereits im Text zur Erkenntnistheorie und Philosophie der Mathematik implizit vorweggenommen. In einem allgemeinen und einleitenden Kommentar zu seiner eigenen Erkenntnistheorie stellt Rickert fest, dass wir mit ihr die Alternative zwischen einem erkenntnistheoretischen Empirismus und einem Rationalismus zu überwinden hoffen und einen Beitrag zum ‘transzendentalen Empirismus’ anbieten [5. S. 119].  Es ist die Erfahrung selbst, die Erfahrung eines dem Bewusstsein gegebenen Gegenstandes, die es der Philosophie erlaubt, die sogenannte ‘Welt des Anfangs’ aufzugeben. Diesem Empirismus zufolge bedarf die transzendentale Sphäre, auch wenn sie in ihrer bloßen Formalität entdeckt wird, eines faktischen Moments. Die Bewegung des Denkens in spekulativen Begriffen scheint dann einer Bewegung der Erfahrung entgegengesetzt zu sein. Der Anfang der Philosophie stößt auf eine Vermittlung, aber diese Vermittlung gehört nicht zum Denken des Anfangs selbst, sondern ist eine Vermittlung durch etwas, das ihm äußerlich ist. Es bleibt aber die Frage offen, ob der Preis, der für dieses Verständnis des Fortschritts der Philosophie zu zahlen ist, nicht vielleicht der transzendentale, d.h. reine Charakter ihrer eigenen systematischen Architektur ist.

Für Rickert ist diese Aussage ausreichend:

“Was sich als Anfang des Systems darstellt, ist in seiner Doppelheit bei jedem Schritt zu berücksichtigen, von dem wir hoffen dürfen, daß er uns dem Ziel der Philosophie, der Erkenntnis des Weltganzen, näher bringt” [1. S. 50].

Die Aufgabe der Philosophie wird nun zu einer fortschreitenden Vertiefung dieser Korrelation zwischen dem subjektiven und dem objektiven Pol, die bei jedem Schritt durch eine Bestimmung von Subjekt und Objekt festgestellt werden muss. Dieses Gleichgewicht zwischen Objektivismus und Subjektivismus, das durch Korrelation erreicht wird, lässt schließlich eine Frage offen: Welchen Sinn soll die kopernikanische Wende, das wesentliche Prinzip der Transzendentalphilosophie, haben, wenn wir in letzter Instanz auf eine Wendung zum Objekt zurückgreifen müssen?

Schlussfolgerungen

In diesem Beitrag haben wir die von dem neokantianischen Philosophen Heinrich Rickert angebotene Interpretation des Beginns der Philosophie vorgestellt. Wir haben besonders hervorgehoben, wie diese Interpretation des Beginns der Philosophie als Korrelation zwischen einem reinen Subjekt und einem reinen Objekt, die auf der Idee einer Heterotesis beruht, eine Neuinterpretation der kantischen Philosophie und einen Versuch darstellt, auf spekulatives Denken zu reagieren. Schließlich haben wir ein Problem dargestellt, mit dem diese Theorie konfrontiert ist, nämlich das Problem der progressiven Bewegung vom Anfang der Philosophie zur Philosophie selbst. Dieses Problem wird bei Rickert erst durch eine Hinwendung zum Gegenstand gelöst, die seine Philosophie in einen ‘transzendentalen Empirismus’ verwandelt.

 

1 Die betreffende Passage lautet wie folgt: “In neueren Zeiten erst ist das Bewußtsein entstanden, daß es eine Schwierigkeit sei, einen Anfang in der Philosophie zu finden, und der Grund dieser Schwierigkeit sowie die Möglichkeit, sie zu lösen, ist vielfältig besprochen worden. Der Anfang der Philosophie muß entweder ein Vermitteltes oder Unmittelbares sein, und es ist leicht zu zeigen, daß er weder das eine noch das andere sein könne; somit findet die eine oder die andere Weise des Anfangens ihre Widerlegung” [2. S. 65].

2 Das heißt, wir versuchen, eine mögliche nicht-dialektische “Überwindung” oder “Auflösung” der Dialektik durch Heterologie in Betracht zu ziehen. Cfr. [4. S. 3].

3 “Die wirkliche Entwicklung der Wissenschaft, die vom Ich ausgeht, zeigt es, daß das Objekt darin die perennierende Bestimmung eines Anderen für das Ich hat und behält, daß also das Ich, von dem ausgegangen wird, nicht das reine Wissen, das den Gegensatz des Bewußtseins in Wahrheit überwunden hat, sondern noch in der Erscheinung befangen ist.” [2. S. 78].

4 “Moment” ist ein technischer Begriff in Rickerts Logik, der in “Vom Anfang der Philosophie” keine weitere Präzisierung erfährt [5. S. 120].

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About the authors

Jacinto Páez Bonifaci

Universität Diego Portales

Author for correspondence.
Email: jacinto.paez@mail.udp.cl
ORCID iD: 0000-0003-3623-5517

Post-Doc-Forscher, Institut für Philosophie

270 Vergara, Santiago de Chile, 8370067, Republik Chile

References

  1. Rickert H. Unmittelbarkeit und Sinndeutung. Aufsätze zur Ausgestaltung des Systems der Philosophie. Tübingen: Mohr; 1939.
  2. Hegel GWF. Wissenschaft der Logik 1. Erster Teil: Die objektive Logik. Erstes Buch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; 1986.
  3. Marck S. Kant und Hegel. Eine Gegenübertstellung ihrer Grundbegriffe. Tübingen: Mohr; 1917.
  4. Cohn J. Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie. Leipzig: Felix Meiner Verlag; 1923.
  5. Rickert H. Sämtliche Werke: Band 1. Berlin: De Gruyer; 2020.
  6. Krijnen Ch. “Heterologie oder Dialektik? Rickerts Lehre vom Ursprung des Denkens im Spiegel der hegelschen Logik”. Hegel-Studien. 2002;(56):97-116.

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