Rosenzweig and Luther. The Concept of Faith in the Perspective of «New Thinking» and Bible Translation

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Abstract

In his “The Star of Redemption”, Rosenzweig engages not only in an argument with philosophy, but also with theology. Next to Augustine and Friedrich Schleiermacher Martin Luther was a counterpart in whose face he developed his dialogical “new thinking”. The essay takes up the traces of this dispute in the letters to focus here on Rosenzweig's reading of Ricarda Huch's “Luther’s Faith”. This literary picture is then related in a sketch to Luther's Reformation theology as it emerges from contemporary research. In a next step, the “Star” is interpreted as a book that, on the one hand, owes much to a previous reception of Luther, but on the other hand, also shows the Reformator's thinking in a new light. Finally, the late writings on the problem of translation come into view in order to justify Rosenzweig’s “Verdeutschung” of the Hebrew Bible, undertaken together with Buber, to Luther’s “German Bible”.

Full Text

„Romanthema“ und „Lebensthema“

Die Lektüre von Ricarda Huchs „Luthers Glaube“ (11916) im Januar 1917 muss für Rosenzweig einschlägig gewesen sein [1]. „Das ist ja ein kolossales Buch“1, schreibt er an die Eltern; „ich bin ganz weg davon“, heißt es zwei Wochen später an Rudolf Ehrenberg [2. Band I/1, S. 340]. „Philosophie in fühlbarer Romanform“ sei das (ebd.), und nur an diese Form könne er „nach 1831“, nach Hegel also „(bzw. nach Schellings Todesjahr)“, glauben. In Romanform, genauer: in Briefen an einen imaginierten Freund habe Huch ein „Lebensthema“ entfaltet. Entsprechend habe auch seine eigene „Begegnung mit Rosenstock 1913 auf dem Boden des ‚Romanthemas‘“ stattgefunden, mit Blick auf die unterschiedlich anverwandelte Geschichte der Philosophie und Theologie also — gemeint ist das viel zitierte „Leipziger Nachtgespräch“ über das Verhältnis von Christen- und Judentum — , während der „Briefwechsel 1916 über das ‚Lebensthema‘“ ging [2. Band I/1, S. 352], wie man als Christ oder als Jude sein Leben führen kann.

Huchs Buch ist vielleicht gerade deswegen „als für die Lutherforschung vor 1920 ebenso bedeutsam gehalten [worden] wie die gleichzeitigen Luther-Aufsätze von Karl Holl“,2 weil es einer zeitgeistkonformen Aktualisierung von dessen Grundgedanken bedurfte, um die sog. Luther-Renaissance einzuleiten.3 Dass hier ein „Lebensthema (‚Natur und Geist‘ weil Weib und Mann)“ mit dem „Romanthema (Luzifer und der Handelnde)“ [2. Band I/1, S. 352]4. verknüpft wurde, hat Huch eine Spur gelegt, der folgend man in der Nachkriegszeit Luthers Anthropologie neu entdecken konnte — als eine solche, in der die immer dominanter gewordene Frage nach der Existenz des Menschen schon eine Rolle spielt. Doch wie zeitgeistkonform Huchs durchgehend pantheistisches Deutungsmuster auch gewesen sein mag: Rosenzweig erblickt darin ein Problem, das er anderen — seiner Mutter etwa — nicht zumuten will, käme doch aus Huchs „Luther“ ohne ein Wissen um den ethischen Monotheismus der Bibel „nur ein Heidentum mit obligaten Bibelsprüchen heraus[.]“ [2. Band I/1, S. 352].

Wenn dieses Buch nun aber trotzdem „von unserer Sache“ [2. S. 341] handelt, wie es im Brief an R. Ehrenberg heißt, dann könnte gemeint sein, dass es die Einsicht, auf der der „Stern“ als „System der Philosophie“ beruht, schon vorweggenommen hat: nicht mehr gibt die Philosophie dem Philosophen die Form vor, in der er zu denken hat — so wird im „Stern der Erlösung“5 die Hegelsche exemplarisch beschrieben — , sondern der Philosoph ist zur „Form seiner Philosophie“ geworden [2. Band I/1, S. 485];6 das hat Rosenzweig exemplarisch an Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche gezeigt. Ein gutes halbes Jahr später wird er — wieder in einem Brief an R. Ehrenberg — die Grundlinien des Zusammenhangs von Gedanken skizzieren, die dann der „Stern“ entfaltet; zu Recht nennt man diesen Brief auch dessen „Urzelle“7.

Anders gesagt: „Wenn das ‚Ganze‘ nicht mehr Inhalt des Systems ist, dann muss es eben Form des Systems sein; oder anders gesagt: die Ganzheit des Systems ist nicht mehr objektiv, sondern subjektiv“ [2. Band I/1, S. 485] — eben wie in einem Roman. M.a.W. habe Huch den „ganzen“ Luther in der Form ihrer eigenen pantheistischen Weltsicht zur Darstellung gebracht [2. Band I/1, S. 341]. Rosenzweig hat im „Stern“ an die Stelle dieses Deutungsmusters seine (Schelling folgende) Philosophie der Offenbarung gesetzt — als das „Romanthema“ der biblischen Narrationen, mit Bezug auf die er sein „Lebensthema“ eines religiösen Existentialismus aus den Quellen des Judentums finden und ausführen wird.

Dass Huchs Buch „mit dem geschichtlichen Luther …wenig zu tun haben“ mag8 [2. Band I/1, S. 352], ja schärfer noch an Hans Ehrenberg, den theologischen und philosophischen Lehrer, dass er „an ihren [Huchs] Luther … gar nicht [glaube], obwohl ich ihr die Fehler nicht nachweisen könnte; ihr historisches Stilisieren ist Retuschieren einer Fotografie statt Zeichnen eines Umrisses“9 [2. Band I/1, S. 388], hat Rosenzweig nicht davon abgehalten, es zu loben — und der Autorin im April 1924 den „Stern“ zukommen zu lassen. Der „Dank …, den ich Ihnen schulde“, mag sich eben auf die Entdeckung des Zusammenhangs von „Romanthema“ und „Lebensthema“ beziehen, den Rosenzweig seinerseits in seinem Hauptwerk zur Darstellung bringen wird — nur dass er nicht mehr wie Huch „den Juden seit dem Jahr Null die Rolle des schwarzen Mannes in der Weltgeschichte spielen“ lässt10 [7. S. 957], sondern von seiner Entdeckung des Judentums als Wurzel, Gesprächspartner und Korrektiv des Christentums Rechenschaft gibt: auch und gerade des protestantischen, das sich auf Luther bezieht.

Im Folgenden suche ich zu zeigen, dass sich Rosenzweig schon im „Stern“, vor allem dann aber anlässlich der Neuübersetzung der Hebräischen Bibel seinerseits mit Luther auseinandergesetzt hat — und nun auch mit Blick auf dessen eigenes Schrifttum (anhand der „Clemen-Ausgabe“ [2. Band 1, S. 341]). Dass ihm hierbei Huchs Buch immer noch wegweisend geblieben ist, lässt sich an deren Intention ablesen, „in unserer Zeit … festzustellen, was wir uns eigentlich bei Luthers Worten denken können und sollen.“ [1. S. 10]. Luther habe die „Idee“ vom Menschen, seinen Möglichkeiten und seiner Begrenztheit, seinem Scheitern gehabt, aber vielfach hätten ihm noch die „Begriffe“ gefehlt, die die „alten, geläufigen Symbole“ einem gegenwärtigen Bewusstsein in ihrem Sinn hätten plausibel machen können (alle Zitate: S. 10). Diese Herausforderung wird Rosenzweig aufnehmen, indem er zentrale Themen Luthers im Medium seiner Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus bearbeitet, um ihnen einen neuen, dialogischen Sinn im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs zu verleihen. Zunächst aber soll dem Verständnis Luthers auf dem Hintergrund heutiger Forschung die Aufmerksamkeit gelten.

Luthers neuer Glaube: eine Skizze

Seine Neuorientierung im religiösen Selbstverständnis beruhte auf einer Entdeckung individueller Subjektivität, die im Sinn der Metaethik des „Stern“ nicht in den allgemeinen Strukturen dieser Welt aufgeht (und für den Reformator auch in den durch die damalige Kirche vorgegebenen Lebensnormen und -formen nicht): d.i. eines der Themen, die Rosenzweig aufnehmen und mit denen er sich im „Stern“ auseinandersetzen wird.11 Aufgrund des nicht verrechenbaren Kerns im Menschen, den er „Selbst“ nennt, vermag das Ich überhaupt erst laut zu werden, indem es „ich aber“ sagt. Eben in diesem Sinne wird im Offenbarungskapitel der berühmte Satz zitiert, den Luther am 18.4.1521 vor dem Reichstag zu Worms ausgesprochen haben soll: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen“ [5. S. 193] („Stern II“). Die Reformation in Deutschland hob an mit diesem Lautwerden des unvertretbaren Gewissens, und stellte auf diese Weise die „universelle Allgemeinheit der Kirche“ in Frage [8. S. 436] (Der Jude in der christlichen Kultur (1917)). Rosenzweig ist aber Dialektiker genug, um es nicht bei dieser ersten Bezugnahme zu belassen. In der Einleitung zu „Stern III“ heißt es dann, nun mit einem kritischen Akzent: Das „Hier-stehe-ich“ bezeichne Luthers Standpunkt, der zwar darauf beruhe, dass die Seele von Gott erweckt sei, aber doch eine „Vereinzeltheit“ bedeute [5. S. 298] („Stern III“, Einleitung).

Möglich wurde Luthers Entdeckung individueller Subjektivität durch ein Neuverstehen von Gottes rechtfertigender Gnade und Barmherzigkeit allein aus dem Glauben (sola fide). Mit der schon angesprochenen Gewissenserfahrung ist sein Glaubensbegriff aufs engste verknüpft: die Kehrseite dessen, dass dieser durch „Werke“ nicht hervorzubringende Glaube sich gegen die „Heilswerke der Kirche“ richtete [8. S. 436], ist eben das neue religiöse Selbstverständnis. In diesem Sinne hat Karl Holl den auf Luther sich berufenden Protestantismus insgesamt als eine „Gewissensreligion“ bestimmt [9].

Der Glaube, auf den allein es nun ankommen soll, hat aber eine subjektive und eine objektive Seite: als fides qua creditur ist er das Vertrauen, in dem der Mensch sein ihm von Gott verliehenes Leben führt, ohne dass eine „Werkgerechtigkeit“ ihm hier helfen könnte, als fides quae creditur hält er die Gegenstände des Glaubens für wahr, wie sie im Credo zusammengefasst sind. Zu diesen Gegenständen gehört vor allem der Glaube an Christus als den geistigen bzw. geistlichen Orientierungspunkt der Versöhnung des Menschen mit Gott im christlichen Verständnis: solus Christus, und d.h. ausschließlich mit Blick auf ihn als die „personifizierte Idee des guten Prinzips“ [10. S. 63]. soll der Glaube seine objektive Orientierung halten. Wir werden sehen, dass und wie sich Rosenzweig auf diese beiden Seiten des Glaubensbegriffs beziehen wird.

Zu verknüpfen war dieser Glaube als „seelisch gedankliches Prinzip“ [8. S. 436] des Protestantismus mit der weiteren Einsicht, dass der Mensch sola gratia mit Gott versöhnt wird. So hat Luther im religiösen Verhältnis erfahren, dass erst die Umkehr aus eigener, erkannter Sünde und die Versöhnung mit Gott den Menschen eigentlich zum Individuum macht. Es ist diese (von Hermann Cohen im Spätwerk mit den Propheten erschlossene) Erfahrung, mit der Luther in seiner frühen Psalmen-Vorlesung rang, zu einer Zeit, als er „noch im Kloster [lebte] und … von der klösterlichen Situation geprägt“ war [11. S. 73]. Hier stellte er die Frage „wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Und hier war für Luther „die Anerkennung der eigenen Sündhaftigkeit … [noch] mit der [zwanghaft empfundenen Forderung des] Gerechtwerdens verbunden, nicht als Voraussetzung… sondern als unablösbare Begleiterscheinung“ [11. S. 78][12].

Sein neuer Glaube sucht seine Vergewisserung nun aber durch die Auslegung der Schrift (sola scriptura). Luther entwickelte eine Hermeneutik des Schriftsinns, die sich von dem überlieferten Modell auf charakteristische Weise unterscheidet [12. S. 55—58].

Der historische Wortsinn wurde auf den prophetischen bezogen, der auf Christus zuläuft, doch dieser blieb konstitutiv an den „Literalsinn“ gebunden, der unter der Leitung der traditionellen Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“ „meist abgewertet“ worden war [11. S. 73].

Durch die Bindung an die Ursprache als Zeugnis der Geschichte blieb „der Glaube [bei Luther] …historisch verankert“ [5. S. 108] („Stern II“, Einleitung).

So vollzog sich die Entwicklung von Luthers Theologie im Medium der Schriftauslegung, bis sich umgekehrt seine theologische Leitorientierung immer umfassender auf sein Schriftverständnis auswirkte. Im Licht der im Evangelium kondensierten Christusidee hieß Texte nach der Schrift zu verstehen, die Spannung von Gesetz (als Wirklichkeit des Lebens) und Evangelium (als befreiendes Wort aus den Zwängen der Wirklichkeit) so zu interpretieren, dass sich die Frohbotschaft als das oberste Prinzip der Auslegung durchsetzt.13

Auf diesem Weg ist im protestantischen Glauben „der Begriff Christi zum Wechselbegriffe … für ‚das Wort Gottes‘“ geworden [8. S. 437]. Im Zusammenhang der Lehre von der dreifachen Gestalt des Gotteswortes [12. S. 47f] gewinnt das gepredigte Wort neben Christus und der Schrift eine so starke Position, dass es nun die Last des Prinzips der „Subjektivität mit allen ihren Zweideutigkeiten“ [8. S. 436] tragen muss: jede Predigt realisiert nun das „hier stehe ich“, auch wenn sie nicht mehr vor dem Reichstag in Worms, sondern Sonntag für Sonntag in Wittenberg gehalten wird. Ein Bild Lukas Cranachs lässt sich als Darstellung und Reflexionsmedium dieser elementaren reformatorischen Konstellation rezipieren. Auf der Predella des Wittenberger Altars ist in der Mitte der gekreuzigte Christus zu sehen. Auf ihn verweist von der rechten Seite, auf der Kanzel mit der aufgeschlagenen Bibel stehend, der predigende Luther. Und auf der linken Seite rezipiert die Gemeinde das neue Verständnis des Glaubens, der nun an das solus Christus gebunden ist.

Schließlich — und d.i. für Rosenzweigs Anverwandlung Luther’scher „Ideen“ (s.o.) relevant — wirkte sich der auf Cranachs Bild repräsentierte Zusammenhang auch auf die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft aus. Es kam Luther darauf an, dass der ganze in der Zeit lebende Mensch, bestehend aus Seele und Leib, sich „vor Gott“ befindet, coram Deo, womit er in vollem Bewusstsein der entsprechenden hebräischen Wendung „vor dem Angesicht“ mitdachte [11. S. 75]. Dem Zeugnis der Bibel folgend wird der Mensch in diesem Gegenüber von Gott angesprochen, „durch die Anrede Gottes in Gesetz und Evangelium“ aber wird Luther zufolge „das Wesen des Menschen“ konstituiert [14. S. 359]. Nimmt man dies ernst, so reicht es nicht hin, den Menschen als animal rationale zu bestimmen, das natürlicherweise schon mitbrächte, was erst durch die Gottesbeziehung entstehen kann.

Demgegenüber führt die Erfahrung, sich „vor Gott“ zu befinden und von seinem Wort angesprochen zu werden, zu einem „neuen Modell der Vernunft“, wie Luther es „auf den Plan geführt“ hat [14. S. 360]. Es ist eine aufgrund ihrer Bindung an die Sprache auf Kommunikation angewiesene Rationalität: Sprachvernunft, die das Sprechen und Hören nicht als „Konzession an die Mangelhaftigkeit unsrer … Verständigungsmittel“ begreift [15. S. 387] sondern als konstitutiv für die Vernünftigkeit der Vernunft selber. Schon für Luther heißt „Vernunft denken … die Sprache, das Gespräch denken“, um es mit Hamann zu sagen [17. S. 32].

Rosenzweigs „neues Denken“ als Deutungsrahmen für die Theologie Luthers

In die Perspektive Rosenzweigs gestellt zeigt sich Luther nun (erstens) als Form seiner Theologie. Schon er hatte seine Theologie als ein „Netz von Denk- und Glaubenserfahrungen“ konzipiert [18. S. 8], das auf seinem subjektiven Standpunkt beruht. Entsprechend kann man bei ihm eine Standpunkt-Theologie finden, in der Person, Denken und Werk untrennbar verbunden sind.

Die Situiertheit des Menschen in der Welt, in der er lebt, gehört aber (zweitens) zu den Voraussetzungen eines Sprachdenkens, das — von Rosenzweig systematisch entfaltet — sich in seinen grundlegenden Momenten schon bei Luther nachweisen lässt. Als „Sprach-Denker“ dachte, schrieb und sprach er — rhetorisch brillant — meist für jemanden, d.h. er übersetzte im Sinne Rosenzweigs, für den das „Dolmetschen“ immer auch ein Über-setzen zum andern hin ist.14 Ein kurzer Blick auf die Gattungen, in denen dieser Reformator sich zu Wort meldete, genügt: Predigten, Sendbriefe, Tischreden und freilich nicht zuletzt die Bibelübersetzung, kurz: gelegentliche, auf bestimmte Situationen bezogene Äußerungen bestimmen das Bild, das die Ausgaben von Luthers Schriften bieten. Die enorme Wirkung dieses Mannes beruhte aber auch darauf, dass er stets den Erschütterungen der lebensweltlichen Vertrautheiten, wie wir heute sagen würden — und daran war auch schon seine Zeit nicht arm — , mit seinem rhetorischen Vermögen zu begegnen verstand.

Drittens ist ein Denken, das sich wirkliches Sprechen und Hören voraussetzt, weder durch die scholastische Aristotelesinterpretation zu begründen, mit der Luther sich kritisch auseinandersetzt,[15] noch mit den Philosophien des Deutschen Idealismus, denen Rosenzweig den Fehdehandschuh hinwirft. Klammert man diese historische Differenz ein, so ließe sich sagen: Luthers (im Übrigen leicht zu verfehlende) Vernunftkritik gewinnt mit Hilfe der Unterscheidungen Rosenzweigs an eigener Statur, wie man andererseits in Luther einen Vorläufer der Kritik der „Philosophie des All“ zu Beginn des „Stern“ sehen kann. Schon für Luther galt, dass „der theologische Inhalt … eine neue Sprache, ein neues Denken“ braucht, weil die „neue Sprache des Glaubens“ sich „von der ratio des alten Menschen“ unterscheidet [17. S. 57]. So macht auch die von Rosenzweig dargestellte „Kommunikation Gottes mit dem Menschen“ deutlich, wie die „Gemeinschaft Gott, Mensch und Welt ursprünglich neu bestimmt werden“ kann. Denn weder „die Dinge noch erst recht der Mensch hat seine Wahrheit in sich oder durch sich, sondern allein als Momente dieser Kommunikation“ [17. S. 28].

 Dass Rosenzweig (viertens) Luthers Konzeption der Sprachvernunft in ihrer theologischen Pointe durchaus verstanden hat, lässt sich an einem Brief an H. Ehrenberg vom 26.9.1910 zeigen: „Gottes ‚naturas contueri‘ [Naturen betrachten] überließ Luther der Spekulation, ‚beneficia eius cognoscere‘ [seine Wohltaten erkennen] nahm er für sich in Anspruch“ [2. S. 111]. Für Luther wie für Rosenzweig geht es um eine Verschiebung der Antwort auf die Frage nach der Gotteserkenntnis von der spekulativen, theoretischen Ebene auf die existentielle einer Lebensorientierung im Grundvertrauen auf Gott. So kann man das erste (Gottes ‚naturas contueri‘) auf den Gottesbegriffs beziehen, wie Rosenzweig ihn in „Stern I“ bestimmt, ohne dass sich dieser „metaphysische“ Gott schon seinerseits dem Menschen zugewandt, ihn aus sich heraus und zur Verantwortung gerufen hätte.

Das zweite (‚beneficia eius cognoscere‘) findet sich dann im Offenbarungskapitel von „Stern II“ durchgeführt: es kommt auf die Gottesbeziehung an, die dem biblischen Narrativ zufolge dadurch eröffnet wird, dass Gott den in sich verschlossenen Menschen wohlwollend unterbricht. Im Dialog mit Gott entsteht das menschliche Ich als ein „lautgewordenes Nein“ [5. S. 193] auf neue Weise im Du: es findet zur Bejahung seiner selbst vermittels des Anderen. Es lernt sich als geliebte Seele zu verstehen. Diese zwischenmenschliche Erfahrung wird von Rosenzweig nun aber metaphorisch auf das Verhältnis von Gott und Mensch übertragen. Indem er den Offenbarungsdialog im Zentrum des „Stern“ zugleich als ein Sprechen der Liebe und als Auslegung der Sprache der Liebe im „Hohen Lied“ zur Darstellung bringt, gibt er seine Antwort auf Luthers Frage nach dem „gnädigen Gott“.

Es kommt darauf an, Gottes Wohltaten zu erkennen: diese Grundeinsicht Luthers lässt sich (fünftens) spezifizieren mit Blick auf die Frage, wie der Mensch es lernen kann, mit der „Sünde“ zu leben, die er auch dann nicht loswird, wenn er die Erfahrung der Rechtfertigung gemacht hat (um mit Luther zu sprechen), oder die, geliebt zu sein (um mit Rosenzweigs Offenbarungskapitel zu sprechen). In diesem zentralen Text seines Hauptwerks integriert er auch die Lehre simul iustus et peccator.16 Für Luther ist die Sünde wesentlich dadurch bestimmt, dass der Mensch in sich selbst verschlossen ist, stumm bleibt, selbstbezogen und einsam (incurvatus in seipso). In diesem Zustand kann er die eigene Sündhaftigkeit nicht erkennen. Das wird möglich erst durch die Erfahrung, als Sünder vor Gott gerechtfertigt zu sein. Folgt man der systematischen Entwicklung des Gedankens von Rosenzweig, so wird in Analogie zu diesem Grundvorgang in der Beziehung zwischen Gott und Mensch auch das metaethische Selbst aus „Stern I“ erst durch die Unterbrechung „von außen“ durch das Wort des Andern, sei es Gottes, sei es des anderen Menschen, zur sprechenden Seele. Wie „Stern II“ es beschreibt, wird das möglich durch eine innere Umkehr des metaethischen Selbst. Erst im Rückblick erscheint dessen Stummheit, Verschlossenheit und Selbstbezogenheit als ein sündhafter Zustand, den erst der Liebesdialog der Offenbarung als solchen sichtbar und erkennbar macht.

Wie die ihm zeitgenössische protestantische Theologie etwa Ritschls oder Herrmanns geht Rosenzweig davon aus, dass der Mensch auch nach der Erfahrung der Offenbarung Sünder bleibt, weil er — auch als sprechende Seele — sein Selbst nicht loswird, sich nun aber gerade so von Gott geliebt weiß. Diesen Sinn des dialektischen Deutungsmusters simul iustus et peccator integriert er in seine Beschreibung des Liebesdialogs [1. S. 23], ohne hierbei allerdings von „Rechtfertigung“ zu sprechen — die Terminologie der Sündenvergebung und Versöhnung entspricht vielmehr dem Wortgebrauch aus Cohens Spätwerk. Zugleich aber korrigiert er die — noch durch augustinische Weichenstellungen geprägte — Anthropologie Luthers um ein kleines. Das Problem, dass „wir… sündigen [müssen], solange wir hier sind“ [1. S. 12], wird von Rosenzweig aufgehoben dadurch, dass er den Offenbarungsdialog als Ursprung und Anfang einer Gottesbeziehung fasst, die sich auf die gesamte Lebensführung dessen auswirkt, der eben nicht nur die Worte Jesajas sich gesagt sein lässt Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst (Jes 43, 1), sondern auch das in die Verantwortung rufende Wort Wie er dich liebt, so liebe du [5. S. 228]. In der Geschichte der Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der Juden und Christen vor Gott „Arbeiter am gleichen Werk“ sind [5. S. 462], ist die „Erbsünde“ [1. S. 15] nicht mehr der schicksalhafte Schuldzusammenhang des Lebendigen, an den der Mensch gebunden bleibt,17 sondern dieses mythische Gestern ist die Vergangenheit, in der die Seele noch ohne Liebe war [5. S. 200]. Entsprechend ist der Wille nicht mehr „ein Lasttier, das der Satan reitet“ [22. S. 98], sondern frei geworden zur Liebestat, die Rosenzweig von der bloßen Zwecktat unterscheidet [vgl. 5. S. 240]. Das entspricht der Freiheit der Christenmenschen, die sich als „eben noch zu Herren aller Dinge Freigesprochene gleich wieder als jedermanns Knecht“ wissen…“
[5. S. 381].

Diese Freiheit kommt sechstens mit der subjektiven Seite von Luthers Glaubensverständnis überein, der fides qua creditur, die Rosenzweig sich durchweg anverwandelt hat. Das ist besonders schön ganz am Ende seines Hauptwerkes zu sehen, wo er mit Bezug auf eine Stelle im Propheten Micha [6; 8] schreibt: „Einfältig wandeln mit deinem Gott — nichts weniger wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jeden Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältig wandeln mit deinem Gott — die Worte stehen über dem Tor“, das vom Buch „ins Leben“ führt [5. S. 472]. Dem „Romanthema“ des Buches und dem „Lebensthema“ der Alltagspraxis (s.o.) gemeinsam ist aber die Frage, wie ein um verantwortliche Lebensführung bemühter Mensch sich in der Gewissheit halten (bzw. wie er in ihr erhalten werden) kann, dass nicht alles umsonst ist, sondern dass es gut wird. Mit dem „Vertrauen“ gibt Rosenzweig am Ende des „Stern“ seine eigene Antwort.

 Doch damit hat er sich nur die subjektive Seite des Luther’schen Glaubensverständnisses anverwandelt. Die objektive hat er für das Christentum zwar respektiert, musste sie aber nicht für sich selbst übernehmen. Dass er die andere, christliche Überzeugung anerkannt hat, tritt in einem Brief an Margrit Rosenstock vom 16.3.1918 prägnant hervor, wo er in der christologischen Zuspitzung von Luthers Theologie ein Analogon zum jüdischen Monotheismus erblickt: „Dem jüdischen ‚einzig‘ entspricht das ‚Christus allein‘, das ‚sola fide‘ der Reformation. Um dessentwillen ist das Christentum ‚Monotheismus‘“ [23. S. 61].18 Diese christologische Zuspitzung betrifft die fides quae creditur: die Gegenstände des christlichen Glaubens, wie sie durch Luthers vierfachen Einsatz des „Exklusivpartikels“ solus benannt werden (s.o.).19 Die problematische Dominanz dieser objektiven Seite des Glaubensverständnisses wird aber zu den Hauptmotiven für die Buber-Rosenzweigsche Bibelübersetzung zu rechnen sein: mit ihr sollte dem „Gespräch der Menschheit“ eine neue Wendung gegeben werden20.

Ein siebter Gesichtspunkt hängt damit zusammen. Rosenzweig hat ein Problem darin erblickt, dass Luther die Rolle der Philosophie als „Schutzmacht“ für „seinen Glauben… energisch ablehnte; denn eine solche Schutzmacht ist für ihn die ‚Obrigkeit‘; sie nahm zum Wort und seinen Verkündern die gleiche Stellung ein wie die scholastische Philosophie zur sichtbaren Kirche.“ [5. S. 119] Diese Bindung an die Obrigkeit wird zum „Schicksal des Protestantismus“ zu rechnen sein wie die neu entdeckte Subjektivität [8. S. 436], die in der Vereinzelung des eigenen Standpunktes enden kann. Wie ist nun die „Brücke zwischen… taubblinder Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit unendlicher Objektivität“ zu schlagen [5. S. 117]?

Rosenzweig antwortet auf diese Frage im Offenbarungskapitel, in dem der Name Gottes alles andere als „Schall und Rauch“, sondern vielmehr „Wort und Feuer“ ist.21 Der „Glaube“, in dem er selbst das bekennt [5. S. 209], ist gewissermaßen eine „absolute Erfahrung“, in dem Sinn, in dem er zugestanden hat, man könne sein „System der Philosophie“ einen „absoluten Empirismus“ nennen [15. S. 398; 16. S. 161]. Doch auch von dieser Erfahrung lässt sich mit philosophischen Mitteln Rechenschaft geben. Die Erfahrung des Wortes Gottes, von der Luther ausgeht, und entsprechend die in der Bibel bezeugte Erfahrung der Offenbarung, von Gottes Wort angesprochen zu sein, lässt sich nicht aus apriorischen Bedingungen ableiten, sondern nur erzählen, wie das „Stern II“ unternimmt. Insofern diese Erzählung sich aber selbst klar wird über die Voraussetzungen, unter denen sie die leitenden Begriffe zu ihrer Darstellung gebildet hat, bedarf auch sie einer apriorischen Reflexion. Denn von Offenbarung, wie auch von Schöpfung und Erlösung zu handeln setzt freilich ein Verständnis Gottes, der Welt und des Menschen voraus, wie „Stern I“ es entfaltet.

Die in „Stern II“ erzählte Erfahrung begründet nun aber auch den Ausweg aus der „Vereinzeltheit“ des subjektiven Standpunkts, dem „Nicht-anders-können“ des „Hier-stehe-ich“ Luthers, das seinerseits auf einer Erweckung der Seele durch Gott beruht. Auch ein protestantisch geprägter Glaube kann der Antwort Rosenzweigs folgen, dass das gemeinsame Einstimmen in das Gebet um das Kommen des Gottesreiches Christen und Juden auf die Objektivität des Gottesnamens ausrichte [5. S. 298f]. Doch diese Gemeinsamkeit ist bei Luther gebrochen durch die strikt christologische Perspektive auf das Alte Testament, welche sich für Rosenzweig in einem „Glaubenszwang“ auswirkt, der bei Luther „alles wirkliche Übersetzen der Schrift bis ins einzelne“ beherrscht [19. S. 163; 16. S. 768f].

Rosenzweigs Würdigung von Luthers Deutscher Bibel

Nicht nur für Luthers Religiosität hat er sich interessiert, sondern auch für die Wirksamkeit des Reformators auf die allgemeine Kultur. Das ist schon an den Stellen in den unter dem Titel „Globus“ zusammengefassten Schriften „Ökumene“ und „Thalatta“ zu sehen, die auf den Protestantismus als Faktor der politischen Entwicklung Europas zu sprechen kommen. An einer Stelle ist vom „Doppelwerk Machiavellis und Luthers“ die Rede, „die Loslösung des Staats aus der ökumenischen Katholizität der Kirche“ vollbracht zu haben [16. S. 314ff.]. An einer anderen Stelle wird die Rolle Englands hervorgehoben, durch die „das Werk Luthers … die Wandlung ins ‚Demokratisch-Individualistische‘“ erfuhr; erst so habe „der Protestantismus aus einer inneren Glaubens- endlich doch noch zu einer weltgestaltenden Macht“ werden können [16. S. 323]. Zu diesen politischen Erwägungen treten nun nach 1917 im „Stern“ stärker auf Kultur und Religion konzentrierte Thesen (vgl. meinen Beitrag: [26. S. 345—374]).

Weil sie „in alle Sphären des Lebens ein[gegriffen]“ habe, sei die „weltgeschichtliche Wirkung“ der Bibel durch „Luthers Übersetzungstat“ befördert worden (vgl. [27. S. 124] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 837]). Die „Weltlichkeit“ seiner Deutschen Bibel habe maßgeblich dazu beigetragen, dass „die Reformation … das erste deutsche Ereignis“ werden konnte, „das in die Welt hinausgewirkt hat und nicht wieder aus ihr geschwunden ist“ [28. S. 205] (Nachwort zu Jehuda Halevi). In diesem Sinne kann Rosenzweig auch von einem „sprachlichen Eroberungszug[.]“ [28. S. 204] (Nachwort zu Jehuda Halevi), sprechen, den Luther mit seiner Übersetzung angetreten habe. Seine Weltlichkeit verdanke das Christentum überhaupt aber seiner Bindung an die „jüdische Bibel“ [27. S. 125f] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 837f] — dieser erste Gesichtspunkt der Würdigung ist angesichts der Rosenzweig zeitgenössischen Erneuerung des Marcionismus durch Adolf von Harnack keineswegs harmlos, hatte Marcion doch die geschaffene Welt abgewertet, um ganz im Sinne der Naherwartung des Neuen Testaments allen Akzent auf die neue Schöpfung durch den Geist zu legen: „Christliche Kirche, christlicher Staat, christliche Wirtschaft, christliche Gesellschaft — all das war und ist vom NT aus nicht zu begründen, weil dieses die Welt schlechthin in der Krise, vor das Gericht gestellt sieht; im Gegensatz zu seinen pointierten Paradoxien bot die aus der ganzen Breite eines Volkslebens und in der ganzen Breite einer Nationalliteratur erwachsende jüdische Bibel mit ihrer… tiefen Schöpfungsgläubigkeit tragfähigen Grund für ein Bauen in und an der Welt.“ [27. S. 125] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 838]. Vor der Gefahr einer Vergeistigung und Entweltlichung vermag das Christentum also die Bindung an die jüdische Auslegung und mit ihr an das Leben der jüdischen Gemeinschaft zu bewahren: in dieser Bindung kommt es für das Christentum auf die Regulation der Gefahren an, die Rosenzweig idealtypisch beschreibt: es sind die Gefahren einer „Spiritualisierung des Gottes-, Apotheisierung des Mensch-, Pantheisierung des Weltbegriffs“ [5. S. 447].22

Zweitens ist die Wirksamkeit von Luthers Deutscher Bibel aber dadurch begründet, dass seine „Übersetzung… auf die gesprochene Sprache des Volkes“ zurückgriff [29. S. 136] (Die Schrift und das Wort (1925)); [16. S. 777—783]. So konnte die Bibel verständlich werden aufgrund ihrer sprachlichen Gestalt, darüber hinaus aber auch durch ihre mögliche Verbreitung an jedermann [19. S. 142] (Die Schrift und Luther); [16. S. 750]. Ihr Verständnis war nicht mehr nur den des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen kundigen Spezialisten vorbehalten, den Mönchen und Priestern, sondern allen möglich, die sich im Vollzug eigener Lektüre ihres Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedienen wollten. So wurde die Bibelübersetzung zur materialen Grundlage, auf der der reformatorische Grundsatz eines „Priestertums aller Gläubigen“ verwirklicht werden konnte.

Doch nicht nur „zum Grundbuch … einer Kirche“ und zum „Träger ihrer Sichtbarkeit“,[23] sondern auch zu dem „der nationalen Sprache selber“ ist die Deutsche Bibel geworden [19. S. 145; 16. S. 753]. D.i. ein dritter Gesichtspunkt. Sie ist zum „nationalen Besitz“ geworden [19. S. 152] (vgl. [7. S. 794] (Tagebucheintrag vom 16.6.1922). Luthers Mühe, den hebräischen Text in gemeinsamer Arbeit mit Philipp Melanchthon und anderen Gelehrten in Wittenberg zu verstehen und ins Deutsche zu übertragen, wird von Rosenzweig ausdrücklich gewürdigt.[24] Luther wollte „der hebräischen Sprache Raum lassen“ [19. S. 143; 16. S. 751] (zit. Luther). Damit hat er den Boden dafür bereitet, dass auch das reformatorische Christentum „Synthese[n] mit der Welt“ eingehen konnte [27. S. 126; 16. S. 839]. Über die Ambivalenz dieser Synthesen, wie sie von Ernst Troeltsch meisterhaft beschrieben worden sind [25. S. 202—254], bestand für Rosenzweig allerdings kein Zweifel — außer der schon genannten Bindung an die „Obrigkeit“ ist der Versuch zu nennen, „aus der Enge und Fremdheit des AT in philosophische Weite oder in völkische Nähe“ zu fliehen [16. S. 839].25 Aber auf der Möglichkeit von Synthesen beruhen die „Kulturwirkungen des Christentums“ [27. S. 126f; 16. S. 839].

Die Begrenzung von Luthers Hermeneutik als Motiv für Rosenzweigs Übersetzung

Die „formbestimmende Kraft“ von Luthers „festumschriebenem Glaubensbegriff“ [19. S. 153], dessen objektive Seite, ist für Rosenzweig problematisch geworden. Mit Bezug auf Luthers „Sondervorrede des ‚Deutschen Psalter‘“ sei zu sehen, dass er die Stellen aufsuchte, „wo das Gesagte ganz wichtig, ganz zu uns, zu ‚unserem Gewissen‘ gesprochen ist, wo also die Schrift für ihn, den lebendigen Christen von heute, heute lebendig ansprechendes Gotteswort, lebendige Lehre, lebendiger Trost, ist.“ Diese Stellen aufzuspüren half ihm die „Analogie des Glaubens [als] die nie versagende Wünschelrute, die ihm … [überall dort], wo das Alte Testament ‚Christus trieb‘, aufzuckte.“ Dort musste das Schriftwort „wörtlich genommen werden und also auch in ‚steifer‘ Wörtlichkeit übersetzt“. Sonst ließ „der Übersetzer ‚die hebräischen Worte fahren und spricht frei den Sinn heraus aufs beste Deutsch, so er kann‘“ [16. S. 752] (zit. Luther).

 „Luthers Glaube bestimmte also bis ins einzelne, wie die große Mittlerarbeit geschieht“ [19. S. 144; 16. S. 752]. Die hermeneutische Legitimation dafür ist aber eine Leserichtung vom Neuen auf das Alte Testament gewesen, die von einem „Erfüllungs-, Überbietungs- und Universalisierungsanspruch“ [17. S. 116] ausging. Mit ihm hatte Rosenzweig es schon 1913 aufgenommen, als er von seinen christlichen Freunden die Anerkennung des Judentums als anderer Religion forderte [2. S. 132—135].26 Wenn man davon ausgeht, ist die Lesehaltung Luthers zu erweitern durch die Offenheit Rosenzweigs: „Wir [wissen] nicht…, aus welchem Wort die Lehre und der Trost fließen werden“, und wir „glauben, dass die verborgenen Quellen der Lehre und des Trostes aus jedem Wort dieses Buchs einmal aufbrechen können, und uns also zu einer neuen Ehrfurcht vor dem Wort beugen“ [19. S. 154; 16. S. 761].

Mit der den hebräischen Wortsinn „verdeutschenden“, neuen Übersetzung, die er gemeinsam mit Buber unternahm, wollten beide zeigen, was auch in dieser — Luther gegenüber — anderen Leserichtung als „biblisch“ gelten kann [19. S. 149] (Die Schrift und Luther); [16. S. 756]. Dieser erneute Beitrag zum „Gespräch der Menschheit“, nun aus der Kraft der Übersetzung eines in Deutschland lebenden Judentums, kurz bevor es von dort vertrieben werden sollte, wollte allen Lesern der Bibel Orientierung geben, auch denen, die der Tradition entfremdet sind.[27]

 

1 Die Schriften Rosenzweigs werden zitiert nach [2], hier [1. Band I/1, S. 336].

2 [3. S. 440] mit Bezug auf H. Bornkamm.

3 Vgl. H. Assel [4].

4 Das Deutungsschema „Weib und Mann“ zieht sich in Huchs Buch durch, ebenso wie das des Luzifer als Gott entgegengesetztes, personifiziertes Prinzip, das eine eigene „Würde“ habe [1. S. 41].

5 Der „Stern der Erlösung“ findet sich in GS II [5]. Das dreigeteilte Werk wird im Text mit
„Stern I—III“ zitiert.

6 [Brief an R. Ehrenberg v. 1.12.1917] mit Bezug auf V.v. Weizsäckers Systembegriff.

7 [Brief an R. Ehrenberg v. 18.11.1917].

8 [Brief an R. Ehrenberg v. 23.2.1917].

9 [Brief an H. Ehrenberg v. 12.4.1917]. Später wird er schreiben: „Vom Buch der Huch [Der Sinn der Heiligen Schrift, Leipzig 1919] bin ich ganz angetan, viel bedingungsloser als vom Luther. Luther tat sie doch im Grunde keine Gerechtigkeit an, aber der Bibel wird sie vollkommen gerecht“ [7. S. 629] (Brief an R. Ehrenberg v. 14.5.1919).

10 [Brief an R. Huch v. April 2024]. Rosenzweig mag an das gedacht haben, was Huch im 7. Brief über die Juden geschrieben hat, sie seien „das Volk der Dekadenz ‚kat exochen‘“, sie müssten „an Christus glauben, ihr Schicksal ist es, in der Zerstreuung zu leben, in anderen Völkern aufzugehen.“ Es sei ein Irrtum, „aus einer großen Vergangenheit auf eine große Zukunft [zu] schließen“, wie schon Luther sagte: Gott sei „bei den Juden gewesen; aber hin ist hin, sie haben nun nichts.“ [1. S. 66]. Vgl. aber auch den für einen heutigen Leser seiner Volkstümelei wegen schwer erträglichen 17. Brief, in dem Huch ihren imaginierten Gesprächspartner — ihr alter ego? — einen „geborenen Antisemiten“ [1. S. 182] nennt und das Fazit zieht, „im Grunde gibt es jetzt keine Juden mehr…: was an ihnen lebendig war, ist in anderen Völkern aufgegangen“ [1. S. 189]. Es scheint, als antworte Rosenzweig eben darauf, wenn er schreibt: Der Jude sei „seit dem Jahr Null… welthistorisch unsichtbar geworden, also gewiss von außen gesehen ‚schwarz‘; aber von innen sieht es anders aus…“ [7. S. 957].

11 Auch das in der „Metaethik“ prominent zitierte Heraklit-Wort, „sein Ethos… [sei] dem Menschen Daimon“ ([5. S. 77] vgl. [1. S. 31]) und die Unterscheidung, „das Wesen des Ich … [sei] unendliches Wollen, das Wesen Gottes [aber] …unendliches Können“ [1. S. 60], finden sich schon bei Huch.

12 Darin, dass die Versöhnung des Menschen mit Gott den Kern der Religion ausmacht, stimmt Cohen mit Luther überein.

13 Auf den Spuren des Paulus und Luthers ist der Gesetzesbegriff im Sinne von Tora, Nomos und Jus dreifach zu differenzieren. Vgl. [13. S. 11—44].

14 Rosenzweig hat dafür die Metapher des „Brückenschlags“ verwendet ([15. S. 386] = [16. S. 139—161, 150] [Das neue Denken]). Vgl.: [19. S. 141].

15 In der Einleitung zu „Stern II“ nimmt Rosenzweig auf Luthers Kampf „gegen ‚Aristoteles‘“ Bezug [5. S. 108]. Dessen Kritik richtet sich vor allem darauf, „dass die Vernunft des Menschen … den Glauben des Evangeliums verfälscht hat.“ [17. S. 27].

16 Vgl. dazu: Daniel Herskowitz, Franz Rosenzweig’s account of Revelation in light of its Protestant Background, erscheint 2023 in: Harvard Theological Review.

17 Cohen zufolge sind Erbsünde und Freiheit unvereinbar [20. S. 287]. Es sei „das Grundübel des Mythos …, dass die Sünde Erbsünde sei“ [21. S. 176] (Die Lyrik der Psalmen).

18 Luther hat das „solus“ etwa im „Sendbrief vom Dolmetschen“ verteidigt. Vgl.: [24. S. 140ff].

19 In „Stern III“ setzt Rosenzweig der christlichen fides quae creditur als „Inhalt eines Zeugnisses“ das jüdische Glaubensverständnis entgegen: „Der Glaube des Juden… ist nicht Inhalt eines Zeugnisses, sondern Erzeugnis einer Zeugung… Er glaubt nicht an etwas, er ist selber Glauben; er ist in einer Unmittelbarkeit, die kein christlicher Dogmatiker für sich je erschwingen kann, gläubig.“ [5. S. 379f].

20 Mit der Bibel habe „das Gespräch der Menschheit … angehoben“ (Rosenzweig, Die Schrift und Luther [1926], in: [19. S. 141—166, 166] = [16. S. 749—772, 771]. Darin, dass dieses Gespräch durch Übersetzungen fortgeführt wird, besteht ihre „weltgeschichtliche Bedeutung“ [16. S. 837—840] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel (1929)) = [19. S. 124—127]).

21 Die kulturanthropologische wie theologische Bedeutung des Namens gehört zum Allgemeingut der biblischen Texte, das Huch unter Berufung auf Useners „Götternamen“ neu entdeckt [1. S. 56]. Vgl. [25].

22 Für die „Apotheisierung des Mensch-“ und die „Spiritualisierung des Gottes[begriffs]“ findet sich ein sprechendes Beispiel bei Huch in: [1. S. 75]. Die „Pantheisierung“ ist ein durchgängiges Deutungsmuster in diesem Buch.

23 „Der protestantischen Kirche ist Luthers Übersetzung das geworden, was die katholische Kirche in einem reichen System von Institutionen besitzt: der Träger ihrer Sichtbarkeit“ [19. S. 150; 16. S. 757].

24 Nennen lässt sich auch der „Hebraist Matthäus Aurogallus“ [30. S. 261].

25 Auf die Aktualität des auf Luther sich berufenden „deutschen Glaubens“ kommt Rosenzweig im Brief an Rosenstock vom 7.11.1916 zu sprechen: „Luther übersetzt sehr schön: ‚Gläubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht‘, ‚Gläuben‘ und ‚Bleiben‘ ist eins; die Säkularisierung dieses Gedankens ist der heutige Nationalismus, der ja Imperialismus wird, um ein gutes Gewissen zu haben“ [2. S. 283].

26 Brief an R. Ehrenberg v. 31.10.1913.

27 „Es könnte wohl geschehen, dass die vor nun hundertfünfzig Jahren begonnene Säkularisierung der Glaubensgemeinschaften noch weiter fortschreitet und Kirche und Gesetz im alten, überlieferten Sinn nur für kleine Kerngruppen weiterbestehen, während die Allgemeinheit (die ‚Kat-holizität‘) der Gemeinschaft auf einen weltlichen Träger, das ‚Kirchenvolk‘ oder in unserm Fall das ‚jüdische Volk‘, übergeht. Die Bedeutung der ‚heiligen Schriften‘ würde dann nicht geringer werden, sondern sogar noch wachsen… Wenn Dogma und Gesetz nicht mehr die allumschließenden Klammern der Gemeinschaft sind…, dann muss die ‚Schrift‘ zu der einen Aufgabe aller Schrift: den Zusammenhang der Geschlechter zu stiften, noch die andre… übernehmen: den Zusammenhang von Mitte und Peripherie der Gemeinschaft zu gewährleisten.“ [27. S. 127] (Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel); [16. S. 839f].

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About the authors

Hans Martin Dober

University of Tübingen

Author for correspondence.
Email: hmdober@gmx.de
Prof. Dr., Pastor, University of Tübingen Geschwister-Scholl-Platz, 72074, Tübingen, Germany

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